Die Donau in Kroatien
2.-4.4.2023
Mit 137 Kilometern Gesamtlänge hat Kroatien den (nach der Republik Moldau und der Ukraine, wo sie nur kurz Teil der Grenze ist) kürzesten Anteil am Dunav, wie der Fluss hier genannt wird. Diese Kilometer möchte ich ausnutzen. Deshalb fahre ich hinter Mohács weiter nach Udvar und dort über die Grenze. Vorher halte ich an einer Tankstelle, um die letzten Forint auszugeben. Gar nicht so leicht für 315 Ft. etwas zu finden! Kurz danach sind deutlich die alten Grenzanlagen zu erkennen, auch hier wieder findet keine Kontrolle statt, niemand sitzt hinter den Schaltern. Auf der kroatischen Seite steht eine lange Schlange von LKWs. Vielleicht, weil heute Sonntag ist?
Der Fluss bildet hier ab dem Dreiländereck (mit Ungarn und Serbien) die natürliche Grenze zwischen zu Serbien. Die Strecke ist sehr gut ausgeschildert und folgt anfangs kleineren Landstraßen. Ich denke an Marinko und Luci, an Oli und Brno.
Später fahre 30 km lang wieder mal auf dem Deich ostwärts. Nichts Menschliches ist zu sehen. Nur weites, nasses Land – Überschwemmungsgebiet zu beiden Seiten, Wildschweine am helllichten Tag, Vögel (Reiher, Kraniche, Falken, Bussarde, Schwäne) und ab und zu eine Polizeikontrolle. Hier – auf diesem Deichweg im Nichts! – werde ich wirklich mehrmals nach meinem Ausweis gefragt. Der Weg verläuft nahe der Grenze, EU-Außengrenze zu Serbien, ok. Aber warum wird hier überprüft, wenn doch der Grenzübergang gestern ganz ohne Kontrolle war? Ich weiß es nicht, hat vielleicht jemand von euch eine Idee?
Die meiste Zeit fahre ich auf Schotter. So langsam, dass ich genüsslich links und rechts meinen Blick schweifen lassen kann. Natürlich könnte ich auch die Autostraße nehmen, mit Asphalt und zehn km/h schneller. Doch warum? Ich genieße es, der Natur so nah zu sein. – Und weiß doch, dass ich sie störe… Die Vögel fliegen auf, die Wildschweine laufen weg. So ist das als Reisende. Durch mein Bewegen kommt etwas in Bewegung. Ist das gut? Ist das schlecht?
Der Naturpark Kopački Rit ist erst erst beschildert, als ich ihn verlasse. Am Ende befinden sich ein Besucherzentrum und Bootsanleger für Rundfahrten, beides sehr modern. Er besteht aus Feuchtgebieten neben der Donau und der Drau, ihren Nebenfluss. Je nach Wasserstand formt und verändert das Wasser dieser beiden Flüsse ständig das Aussehen der Landschaft und schafft ein wunderschönes Mosaik aus Seen, Kanälen, Teichen, Auenwäldern, Schilfgürteln und Feuchtwiesen. Es ist eines der am besten erhaltenen Überschwemmungsgebiete in Europa. Der Park zeichnet sich durch große Artenvielfalt aus, er beherbergt fast 300 Vogelarten und 50 Fischarten, inklusive des Seeadlers, der auch ein Symbol des Parks ist.
Es ist wieder kalt, nachts unter 0°. Ich bin froh, dass ich meine Ausrüstung dabei habe. So halte ich mich tags und nachts warm. Und wenn ich morgens zum kurzen Bad in die Donau gehe, fühlt sich das Wasser auf einmal ganz warm an 😉!
In Kroatien sehe ich Warnwesten auch bei „normalen“ Radfahrern, z.B. an älteren Menschen auf dem Weg zum Einkaufen. Auch ich trage meine inzwischen ständig. Radwege gibt es hier so gut wie gar nicht. Dafür sind alle Schilder in zwei Schriften beschrieben, das Kyrillische Serbisch gehört hier zum gewohnten Anblick.
In einer sehr windigen Nacht ziehe ich noch einmal mit meiner Hängematte um, um an einem geschützten Ort zu sein. Dabei schaue ich nicht gut genug und vergesse, wie schwer ich bin… Beim Hineinlegen bohrt ein Ast in Hängematte und Luftmatratze ein Loch. Die Nacht wird kalt ohne Isolation von unten, doch ich bin zu müde um aufzustehen. Außerdem traue ich dem Klebstoff bei der Kälte nicht. Am nächsten Tag gibt es also in Osijek eine lange Pause in einer Shopping Mall. Cappuccino, Wi-Fi, Steckdose, Wärme – was will ich mehr? Ich klebe meine Hängematte und Luftmatratze, schreibe an meinem Blog, genieße die Aussicht auf die Donau und lasse es mir gut gehen. Bezahlen kann ich hier übrigens wieder in Euro! Seit Anfang diesen Jahres gibt es ihn auch hier. Daneben steht immer noch der Preis in der alten Währung Kuna.
Kurz danach fahre ich durch Vukovar. Das einstige Handelszentrum mit seiner barocken Innenstadt war bis 1918 Teil des Habsburger Reiches und durch eine große ethnische Vielfalt geprägt. Heute wird die Stadt meist mit einem anderen, viel kürzeren Abschnitt ihrer Geschichte assoziiert. Diese Region an der Grenze zu Serbien war während des Kroatienkrieges 1991–1995 das am stärksten umkämpfte Gebiet. Vukovar wurde 1991 Schauplatz eines Angriffs serbischer Separatisten und der Jugoslawischen Volksarmee, die die Stadt an der Donau und deren Umland im Rahmen des Kroatienkrieges der Republik Serbische Krajina einverleiben wollten. Bei der serbischen Belagerung (4.10.-20.11.91) und der Schlacht wurde die Stadt weitgehend zerstört. Selbst mehr als zehn Jahre nach dem Krieg ist Vukovar in weiten Teilen eine Geisterstadt geblieben. Traurige Berühmtheit erlangte es auch durch das Massaker im nahen Ovčara, bei dem 250 Zivilisten und Kriegsgefangene am Tag der Kapitulation von Angehörigen der Jugoslawischen Volksarmee und serbischen Freischärlern ermordet wurden. Inzwischen gehört die Stadt zu Kroatien, der Widerstand ihrer Verteidiger wurde zum Mythos. Seit Ende der 90er Jahre ist der 18. November der offizielle „Gedenktag der Opfer von Vukovar 1991“. Dieser wird jährlich mit Märschen und Reden von Veteranen und hochrangigen Politikern begangen. Landesweit wird an die Belagerung erinnert. Dass damals auch in der Stadt ansässige Serben gegen die Invasoren kämpften und dabei ihr Leben ließen, wird im nationalistischen Diskurs gern ausgeblendet. So tragen alle Grabsteine auf dem Ehrenfriedhof der Opfer des Heimatkriegs die Inschrift „Kroatischer Verteidiger“, auch jene der serbischen Gefallenen.
Die Region um Vukovar gehört heute zu den strukturschwächsten des Landes, immer noch beheimatet er eine beträchtliche serbische Minderheit. 2013 erlangte Vukovar abermals internationale Bekanntheit, als nach dem EU-Beitritt von Kroatien im ganzen Land Zehntausende auf die Straße gingen, um eine Aufhebung der EU-Richtlinien zum Schutz nationaler Minderheiten für Vukovar zu fordern, zu denen die Maßgabe gehört, dass Minderheiten ab einem Drittel der Bevölkerung die Gleichberechtigung ihrer Sprache und Schrift im öffentlichen Raum zusteht. „Angesichts ihrer schmerzvollen Geschichte sei die alltägliche Konfrontation mit der kyrillischen Schrift für die überwiegend lateinisch schreibenden Bewohner unzumutbar.“
Symbol für die Beharrlichkeit der Verteidiger Vukovars ist der Stadt ihr Wahrzeichen, der weithin sichtbare Wasserturm. Trotz starkem Artilleriebeschuss steht er bis heute. Auf der Fahrt durch die Innenstadt sehe ich weitere Fassaden mit Einschusslöchern, der Wind bläst durch das leerstehende Hotel Dunav am Ufer der Donau. Auf einem weißen (katholischen) Kreuz ist eine Widmung für die Verteidiger Vukovars eingemeißelt: „Ewig soll leben, der ehrenvoll stirbt“.
Vukovar ein Ziel für Schulklassen aus ganz Kroatien, welchen hier anschaulich die Brutalität des Krieges, aber auch die Tragödie des eigenen Volkes vor Augen geführt werden soll. Der Geschichtsunterricht in der Schule endet allerdings mit dem Jahr 1992, der Krieg wird nicht thematisiert.
Ich muss zurückdenken an meine Radreise rund um Zypern. Auch dort gab es in beiden Teilen sehr verschiedene Wahrnehmungen und Interpretationen der Geschichte. Dass das jeweils andere Volk verwerfliche, schreckliche Gräueltaten begangen hatte, war überall zu lesen und zu hören.
Letztes Jahr habe ich mich oft gefragt, warum der Krieg in der Ukraine als erster Krieg auf europäischem Boden bezeichnet wird. Was ist mit dem Krieg hier in Jugoslawien? Zählte der nicht, weil es „nur“ ein Bürgerkrieg war? Hat jemand eine Antwort darauf?
Es ist immer noch kalt, doch die Sonne scheint und ich hole mir beim Bäcker ein zweites Frühstück bzw. Mittagessen. Beim Essen auf dem warmen Bürgersteig komme ich erst mit einer älteren Dame ins Gespräch. Sie hat zig Jahre Deutschland gearbeitet, nun verbringt sie seit zehn Jahren ihre Rente in ihrer Heimat Kroatien. Dann kommt Ingo auf seinem Rennrad vorbei, auch er spricht deutsch. Wir unterhalten uns angeregt über Fahrräder und das Woher und Wohin, dann wird ihm kalt und er will nach Hause zu seiner Familie zum Essen. Ich habe wieder einige Worte Kroatisch gelernt und konnte es ihn nicht nehmen, mir zehn Euro zuzustecken. Er freut sich sichtlich, mir für meine Reise etwas Gutes tun zu können.
Die Strecke ist nun hügeliger mit schönen Abfahrten und Ausblicken. Abends ist alles noch nass vom tauendem Schnee. Ich baue mein Zelt auf der Terrasse einer Hütte am Weinfeld auf. Als ich morgens schon fast fertig bin mit Packen, fährt ein Auto mit zwei Arbeitern vor. Ich setze gerade zum Entschuldigen an, doch sie winken ab – alles ok! und machen sich lächelnd an das Abkneifen der alten Triebe. Was ist es schön, willkommen zu sein!