Türkei – Asien
20.-25.5.2023
Und dann hole ich endlich mein Fahrrad aus dem Fahrradgeschäft. Die Kette wird noch einmal gereinigt und geölt, ich überprüfe den Reifendruck, tausche die vorderen Bremsbeläge und dann geht es los!
Wenn ich allen Vorschläge folgen würde, die mir für schöne Orte in der Türkei gegeben wurden, würde ich mehr als meine restlichen Monate brauchen, um diese alle zu besuchen. Trotzdem machen es mir die Tipps leichter. Denn ich weiß nun, dass es überall schön ist! Als nächsten Fixpunkt habe ich mir Kappadokien gesetzt. Um dorthin zu gelangen ist mir sowohl die Strecke übers Schwarze Meer, erst recht der Bogen über die Ägäis zu weit, also fahre ich nun sehr direkt diagonal nach Süd-Ost.
Anfangs folge ich der „Blueline“, die ich schon die letzten beiden Abende/Nächte mit Erol kennen gelernt habe, immer weiter nach Osten. Heute ist ein Feiertag, viele Menschen sind auf den Beinen. Verkaufswagen mit Tee und anderen Getränken rollen herum, Aktivitäten wie z.B. Luftballonschießen mit Luftgewehren werden angeboten, es wird flaniert, sich unterhalten.
Die Stadt Istanbul hört nicht auf, 25 km lang folge ich der Strandpromenade, rechts das Marmarameer, links von mir Hochhäuser, Einkaufszentrum, Parks, Wohngebiete und die Schnellstraße. Am Ufer lässt es sich gut fahren, selbst bei dem Feiertagsbetrieb und trotz der vielen Elektroroller, die wie bei uns auch hier herum fahren und stehen. Ich erreiche Pendix, mit seiner großen Marina, den Segelschiffen und Yachten sowie der Anlegestelle für die Fähre nach Yalova. Leider kann ich das restliche Guthaben meiner IstanbulCard nicht mehr nutzen, für das Ticket hier brauche ich Bargeld. Ich muss auch meinen Pass vorzeigen, eingetragen auf dem Fahrschein sind der vollständige Name und der zugewiesenen Sitz im Café auf der Fähre. Dies entdecke ich jedoch erst am nächsten Tag, es scheint aber auch nicht allzu viel Bedeutung zu haben, von meinem selbstgewählten Sitz mit der Aussicht nach vorn hat mich jedenfalls keiner vertrieben.
In Yalova angekommen drehe ich eine Runde durch das kleine Städtchen und beginne dann den neuen Abschnitt auf meiner Reise: Asien! In Istanbul hieß es oft „Istanbul und der Rest der Türkei sind völlig verschiedene Länder“. Ich bin gespannt, was mich erwartet. Erst einmal wirkt es hier ähnlich wie die Türkei auf dem europäischen Kontinent bevor ich Istanbul erreicht hatte.
Nach einer halben Stunde auf einer Schnellstraße mit breitem Standstreifen, biege ich ab und freue mich, wieder unterwegs zu sein: auf kleinen Straßen, durch kleine Dörfer mit freundlichen Menschen. Große Ausblicke, große Freiheit, große Freude!
An einem langen See (Iznik Gölü) entlang fahre ich durch ein Olivengebiet. Die silbernen Blätter schimmern in mittelgroßen Plantagen, aber auch auf jedem kleinen Stückchen Grünland. Langsam kommt die Sonne heraus, die Wolken geben den Blick auf die Berge frei, am Straßenrand liegen Hunde faul in der Sonne auf dem warmen Teer. Als ich Oliven einkaufen möchte, muss ich mich bemühen, sie bezahlen zu dürfen, aber zu einem Tee lasse ich mich gerne einladen. Im Teehaus „Çayevi” kommen wir ins Gespräch. Ich kann schon eine ganze Menge auf Türkisch erzählen. Woher, wohin? Dass ich mit dem Fahrrad fahre, alleine reise, dass ich Lehrerin für Mathematik und Sport bin in Hannover. Über das Wetter, wann es die letzten Tage geregnet hat oder nicht. Immer noch schwer ist es für mich jedoch die Fragen zu verstehen. Ich brauche lange, um das schnell gesprochene Türkisch zu sortierten und zu entschlüsseln. Ich werde weiter üben, merke aber auch, dass oft einzelne Schlüsselwörter ausreichen und mein Anspruch gar nicht sein muss, jedes Suffix zu analysieren.
Nach der Hälfte des großen Sees biege ich ab, um eine kleine Bergkette zu queren. Langsam fahre ich in Serpentinen bergauf, folge einer Schlucht, in der unten leise ein Fluss rauscht. Hier fahren Trecker und Pferdewagen, in den Bergwiesen sitzen Menschen und machen Pause wie ich. Von meinem Mittagsschlaf unter Obstbäumen werde ich geweckt, als ein besorgtes Paar seinen Pferdewagen stoppt und fragt ob es mir gut geht, der Boden sei so kalt.
Die Strecke ist grandios! 1000 m Höhenmeter schenken mir tolle Ausblicke auf Gipfel und in Täler. Als dunkle Regenwolke nahen, denke ich mir: das geht auch ohne Regenzeug! Zur Zeit fahre ich in kurzer Hose und T-Shirt, das wird hinterher schnell wieder trocken. Was jedoch kommt, ist ein Gewitter! Dicke Regentropfen durchnässen mich sofort bis auf die Haut. Danach folgen Hagelkörner, es blitzt und donnert! Dazwischen ich in dieser herrlichen Bergwelt. Kurz überlege ich, ob mein Stahlrahmen die Blitze anziehen wird, verwerfe diese Idee aber und genieße das Wetterspektakel. Nachdem das Schauspiel vorbei ist, tausche ich dann doch das T-Shirt gegen mein Schlaf-Shirt, ziehe die Jacke über und freue mich an der wärmenden Sonne. Woran ich nicht gedacht hatte war, dass das Wasser entlang meiner Beine hinab läuft. So werde ich nun die Erfahrung sammeln, wie Schuhe, die eigentlich immer dicht halten, trocknen, wenn sie von innen durchnässt sind. (Auflösung: recht langsam…)
Am nächsten Tag verlasse ich das Bergparadies und folge einem Schnellweg. Der glatte Asphalt tut zur Abwechslung auch mal ganz gut, auf dem breiten Seitenstreifen bin ich in Sicherheit, das Hörbuch im (einen) Ohr lenkt von dem Motorenlärm der Autos ab.
Sobald ich wieder von dieser „Autobahn“ abbiege, bin ich in weniger als 1 km in der dörflichen Türkei: einspurige Schotterstraßen, manchmal auch löchriger Asphalt, daneben einfache Häuser. Pferde, Esel, Hühner, Hunde am Straßenrand, Schaf- und Ziegenherden mit ihren Hirten auf den Rasenflächen. Hier gibt es keine Vorgärten, keine Bürgersteige, keine Carports, Spielplätze nur in größeren Orten. Auch Kindergärten sehe ich sehr selten. Schulen (Ilkokul = Grundschule, Ortaokul = Mittelschule, Lise = Oberschule/Gymnasium) gibt es in den zentralen Städtchen. (Mini-)Schulbusse (okul taşıtı) sehe ich regelmäßig.
Dann bin ich wieder allein mit mir, meinen Gedanken, meinem Fahrrad, den Ausblicken, der Natur und jetzt gerade mit einer glänzenden, vom Regen frisch gewaschenen Luft.
Under wandering stars I’ve grown, by myself but not alone 🌙
Metallica
Die Frauen sind dick angezogen mit Rock, Jacke und Kopftuch, die Männer sitzen mit Jacket im Teehaus. Da komme ich mir manchmal komisch vor in kurzer Hose und T-Shirt. Manche Menschen grüßen mich zurück, winken mir freundlich zu. Manche gucken regungslos durch mich hindurch. Liegt es daran, dass sie eine Frau wie mich nicht einordnen können, Berührungsängste haben? Ich weiß es nicht. Radelnde Männer erzählen von mehr Offenheit und Einladungen. Die Frauen von radelnden Hetero-Pärchen erzählen, dass grundsätzlich nur mit ihren Partnern geredet wird und sie selber ignoriert werden. Alleinreisende Frauen habe ich nach Claire noch nicht wieder getroffen. Hoffentlich gerate ich an noch viele Menschen, die englisch oder deutsch sprechen, um solche Dinge zu erfahren. Doch immer wieder gibt es sehr herzliche Begegnungen: das jugendliche Mädchen, das im kleinen Dorfladen bedient, mich begeistert ausfragt und hinterher etwas schüchtern auf die Straße kommt und mich nach einem Selfie fragt. Furkan (11 Jahre), der sich mutig zu mir auf den Bürgersteig setzt und ein Gespräch beginnt. Kinder und Erwachsene, die ihr Englisch ausprobieren wollen. Und regelmäßig – mehrmals täglich – eine Einladung zum Çay, die ich gerne annehme, schließlich habe ich mir vorgenommen, mehr zu trinken!
Heute Abend fahre ich länger, um meinen auf der Karte ausgesuchten Schlafplatz zu erreichen. Selbst an der Küste oder am Fluss ist es nicht immer leicht, eine geeignete Stelle zu finden. Hier weiter oben noch weniger. Auch wenn die weiten Wiesen auf der Hochebene zum Schlafen einladen, zieht es mich doch zum Wasser, um abends und morgens baden zu können. Schon fast im Dunkeln liegt der See zum Greifen nah. Ich biege von der Straße ab – und stecke fest! Lehmige Erde klebt an den Reifen, nach wenigen Umdrehungen blockiert sie an den Bremsen und unter den Schutzblechen. Mühselig pule ich die Räder frei und schiebe auf dem Gras am Wegesrand. Auch hier versteckt sich in der Dunkelheit der Lehm, so dass ich inzwischen auf 5 cm hohen Plateausohlen laufe und die Prozedur wiederholen muss. So dauern 500 m dann doch eine halbe Stunde… Dafür finde ich hinterher einen wunderbaren Platz für meine Hängematte mit einer herrlichen Aussicht über den See, regengeschützt vor dem erwarteten Schauer. Am nächsten Morgen nutze ich eine Regenpause zum Baden, könnte danach eigentlich früh starten. Doch es beginnt wieder zu nieseln und ich gestalte mir einen ruhigen Vormittag. Koche mir einen Kakao, wiederhole die Meditation, die mir meine Tochter zum Geburtstag geschenkt hat. Danach schreibe ich mein Tagebuch und sortiere etwas Gepäck. Mittags komme ich dann los, fahre durch ein Zentrum-Dorf, das anfangs vielen anderen Dörfern gleicht, durch die ich schon gefahren bin. Doch in der Mitte befindet sich reges Treiben in (eigentlich vor, so eng sind die meisten) kleinen Geschäften: Schumacher, Haushaltswaren, Metzger, Sanitär+Heizung, Frisöre (meistens Erkek => für Herren) und natürlich Teestuben voller Männer. Pritschenwagen, Motorräder, viele Hunde. Hier tobt das Leben!
Auch in diesem Teil der Türkei gibt es überall Wasserstellen, für die Menschen, die Tiere, zum Autowaschen und vieles mehr. Es ist immer klares Wasser aus einer Quelle oder Leitung, ich trinke es bedenkenlos. Manche Türken schimpfen mit ihrem unnachahmlichen Zungenschnalzen, wenn sie sehen, dass ich hier meine Trinkflaschen auffülle, und reichen mir Soda (Mineralwasser), aber für mich ist es die bessere Wahl.
Als ich wieder einmal an einer Wasserstelle mit angeschlossener Viehtränke meine Flaschen auffüllen will, werde ich gerufen: Mecit hütet hier seine Schafe. Wir unterhalten uns angeregt, dann zeigt er auf sein Haus in knapp 300 m Entfernung und schickt mich, mit seiner Frau einen Tee zu trinken, er würde bald zum Essen nachkommen. Er zückt sein altes NokiaHandy und will mich anmelden. Doch als ich auf den Hof fahre, ist dort niemand außer des bellenden Hundes und etwas Geflügel. Nach einigen Minuten öffnet mir Suna die Tür, während sie noch lachend ihre Kleidung richtet. Es ist ein gemütliches Haus, auf das die beiden zurecht stolz sind. In der großen Küche steht ein spezieller Börekofen, zwei Sofas stehen weit entfernt an den gegenüber liegenden Wänden, an der Wand dazwischen die Küchenzeile. In der oberen Zimmerecke hängt ein Fernseher. Ansonsten gibt es viel freien Platz mit Teppich. Wir unterhalten uns und schauen gemeinsam eine türkische Kochsendung an. Es ist sehr interessant zu sehen, was genauso wie bei uns ist: es werden Gerichte unter Zeitdruck zubereitet (hier ist es Börek) und was anders ist: das Juryurteil wird lauthals diskutiert, die Teams beschimpfen sich gegenseitig. Es erinnert mich etwas an die Dailytalkshows der 90er-Jahre auf RTL und Sat1. Auch so lernt man Türkisch!
Als Mecit kommt, wird die Tischdecke auf den Boden gelegt, darauf kommt ein niedriger runder Tisch. Das Ehepaar, ca 65-70 Jahre, setzt sich im Schneidersitz daran, ich ebenso. Achtung! Schnell bemerke ich, dass die Füße unter den Tischdecken-Teppich gehören und nicht darauf, er wird übrigens gleichzeitig als Serviette benutzt. Neben Börek und Brot gibt es Tomaten, Gurken und Oliven, dazu Tee. Am liebsten mag ich den Schafsjoghurt aus eigener Produktion – so mild und cremig! Als ich später fahren möchte, bekomme ich noch ein halbes Brot und eine Streifen Börek mit auf den Weg. Solch ein herzliches Willkommen, solch ein offenes Haus! Die beiden wirken sehr liebevoll und gleichberechtigt miteinander.
Ich fahre durch die kahle Landschaft. Inzwischen ist es flacher geworden, so dass ich weiter schauen kann, ein Gewitter ist angekündigt. Als es sich nähert, will ich mich unterstellen. Doch wo? Keine Haltestelle, keine Veranda. Aber dort! Eine Brücke wird gebaut, die Straße führt provisorisch drum herum, doch der Bogen ist schon fertig. Gerade rechtzeitig mit den ersten dicken Tropfen erreiche ich den Unterschlupf, die Bäume biegen sich unter den Windböen, der Himmel ist schwarz. Da kommt ein großer Kranwagen angefahren: die Bauarbeiter haben die selbe Idee und rangieren vorsichtig neben mein Fahrrad in den Wetterschutz. Einige fangen hinten an Metallstangen abzuflexen, ich werde eingeladen im Führerhaus Platz zu nehmen. Zugegeben, hier im Windschatten ist es noch wärmer. Attila setzt sich zu mir. Wir teilen unser Obst und warten das Gewitter ab.
Auf meinem Weg komme ich nach Tagen im ländlichen Gebiet auch durch einige Städte: Durch Eskişehir, das Amsterdam der Türkei mit seinen Brücken über den Fluss und einem sehr schönen Stadtpark. Und durch Sivrihisar, den Geburtsort von Nasreddin Hodscha, eines Lehrer und Geistlichen, über den in der türkischen Volksliteratur viele Geschichten überliefert sind. Ob es Nasreddin Hodscha wirklich gegeben hat, weiß letztlich niemand.
Sehr viele Menschen gehen davon aus, dass er in Akşehir, ganz in der Nähe, studiert und gelebt hat und 1284 auch dort gestorben ist. Auf dem alten Friedhof habe ich damals zusammen mit meinen Kindern sein Grabmal besucht, das mit einem übergroßen Turban aus Marmor geschmückt ist und neben dem eine kleine Metalplatte mit der Inschrift: „Hier ist die Mitte der Welt“ in den Boden eingelassenen ist.
In vielen Erzählungen spielt Nasreddin Hodscha eine Witzfigur wie Till Eulenspiegel oder Klein Fritzchen, er ist ein Alltagsheld, Schlitzohr und Querdenker. Bildlich dargestellt wird er meist als islamischer mittelalterlicher Gelehrter, der mit einem überdimensionalen Turban auf dem Kopf verkehrt herum auf dem Esel sitzt. Warum, erzählt folgende Anekdote:
Eines Tages setzte sich Nasreddin Hodscha verkehrt herum auf seinen Esel, mit dem Gesicht nach hinten. Die Menschen, die ihm begegneten, fragten ihn verwundert: „Hodscha, warum reitest du falsch herum auf deinem Esel?” Der Hodscha antwortete ihnen: „Das ist ganz leicht zu erklären. Ich möchte nicht in dieselbe Richtung schauen wie der Esel!”
Nasreddin Hodscha entspricht keinem Klischeebild, schon gar nicht dem eines strengen muslimischen Geistlichen. Ganz im Gegenteil, er ist schlagfertig, witzig, unkonventionell, respektlos und subversiv. Nasreddin Hodscha ist ein Menschenkenner, er nimmt die Fehler, die Widersprüche, die Feigheit, die Dummheit, die Doppelmoral und Aufrichtigkeit in der Gesellschaft auf den Arm und sich selber gleich mit dazu.
Nasreddin Hodscha ist einmal bei einem angesehenen Mann zu Gast. Als sie beim Mahl sitzen, bekommt er Appetit auf Käse und er beginnt: "Käse ist eine ungemein bekömmliche und gute Speise. Er fördert den Appetit, ist sehr nahrhaft und außerdem leicht auf Reisen mitzunehmen." Der Herr des Hauses befiehlt sofort, Käse herbeizubringen. Doch die Diener melden, es gäbe im Augenblick keinen. "Umso besser", sagt der Hodscha, "denn diese Speise macht nur durstig, man verdirbt sich den Magen damit und wird am Ende gar krank." Darauf meint der Hausherr: "Du lobst den Käse einmal als bekömmlich und nennst ihn dann wieder schädlich: Wie denkst du also in Wahrheit darüber?" "Herr, das kommt ganz darauf an, ob Käse vorhanden ist oder nicht."
Witz und Humor ist gerade in der islamisch-arabischen Welt, wo politische Restriktionen stark sind, ein Ventil, um Kritik, Zweifel und Sorgen zum Ausdruck zu bringen. Nicht wenige Satiriker und Karikaturisten stehen auch heute in der Tradition eines Nasreddin Hodscha.
An einem heißen Sommertag war der Hodscha mit seinem Esel unterwegs. Mittags legte er sich zur Rast in den Schatten eines Walnussbaumes. Ganz in der Nähe sah er ein Feld voller reifer Wassermelonen. Nasreddin Hodscha dachte eine Weile nach, dann sagte er:"Wie eigenartig ist doch Gott, der die großen Wassermelonen so geschaffen hat, dass sie an einem kleinen Stengel wachsen, während die kleinen Walnüsse an einem riesiggroßen Baum wachsen." Genau in diesem Moment fiel eine Walnuss vom Baum und traf den Hodscha am Kopf. Nasreddin Hodscha rieb seinen schmerzenden Schädel und sagte sinnend: "Gott weiß es doch am besten, warum die Wassermelonen nicht auf Bäumen wachsen."
Nach einer langen Pause möchte ich abends noch das letzte Licht zum Fahren ausnutzen. Die Straße ist gut, der Regen hat aufgehört. Die herabsinkende Sonne, rotleuchtende Wolken, ab und an ein Auto oder Trecker, Hügel, sanfte Täler, die Straße, ich, ansonsten ist hier nichts.
Als ich gegen Viertel nach acht beschließe, in den nächsten Seitenweg abzubiegen, um einen Schlafplatz zu finden, muss ich noch 20 Minuten fahren, bis einer kommt. Dann aber sehe ich etwas entfernt von der Straße auf einer Anhöhe eine Baumallee. Der Weg ist wieder durchnässt und lehmig. Diesmal bin ich gewarnt! Ich schnappe mir ein herumliegendes Plastikband, knote eine Schlaufe und spanne mich vor mein Fahrrad. Ich ziehe/schiebe mein Rad durch das Gras neben dem Weg die Steigerung hinauf. Wirklich: ein Platz, wie für mich vorbereitet! Beim Ablegen der Schlinge schlägt mir das Ende des Bandes ins Auge. Als ich blinzele merke ich, dass meine Kontaktlinsen nicht mehr da ist. Oh je! Und das hier im Dunkeln. Aber wie gut: es regnet nicht und ist windstill.
Ich bewege meine Füße keinen Millimeter, überprüfe, ob sie nicht einfach im Auge verrutscht ist. Leider nein, also hole ich meine Stirnlampe heraus und beginne das Rad und den Boden abzusuchen. Ich überlege und versuche zu berechnen, wo sie hingeflogen sein könnte. Nachdem ich das Gras unter dem Fahrrad sorgfältig abgesucht habe, stelle ich es vorsichtig ab und erweitere meine Kreise, immer mit der Furcht auf die Linse zu treten, wenn ich einen Fuß bewege. Schnell wird es richtig dunkel, die Sterne und die schmale Mondsichel geben kein Licht, aber meine Stirnlampe hat eine Powerfunktion mit 600 Lumen und ist voll aufgeladen, ein richtiger Suchscheinwerfer. Ich bin mir sicher, dass das kleine Teil hier irgendwo sein muss! Nur wo?
In der nassen Jacke wird es kalt. Vorsichtig schleiche ich weiterhin suchend zu der Tasche mit den Schlafsachen um T-Shirt und Jacke zu tauschen – schon besser! Ich suche und suche. Oben an den Grashalmen, unten auf dem Boden, alles mit einem Auge. Irgendwann baue ich das Zelt auf, auf die Hängematte habe ich heute keine Lust. Weit genug entfernt, wo nach meiner Überlegung auf keinen Fall die Linse hingeflogen sein kann, ist mein Schlafzimmer schnell errichtet. Hier tausche ich die zweite Linse gegen meine Brille, ziehe meine Daunenjacke über und starte frisch motiviert zur nächsten Runde – zwei Augen sehen mehr als eins!
Ich singe dabei, denke lächelnd an eine ähnliche Suchaktion mit meiner Mutter letzten Sommer in Schweden und bin dankbar:
- dankbar, dass es nicht regnet
- dankbar, dass kein Wind weht, erst recht kein kalter
- dankbar, dass ich meine Brille mithabe und sogar weiche Monatslinsen, die mir meine Cousine Homeira als Reserve mitgegeben hat
- dankbar, dass ich gesund bin
- dankbar, dass ich hier in Sicherheit bin
- dankbar, dass ich lebe
Gegen 23:30 Uhr beschließe ich schlafen zu gehen. Schnell die feuchte Hose und Schuhe aus und ab in den Schlafsack. Ich freue mich über das Brot und den Börek, die mir Suna mitgegeben hat und bin dankbar, dass es mir so gut geht! Nachts träume ich dreimal, dass meine Kontaktlinse gefunden ist. Das erste Mal von mir, dass zweite Mal von meinem Vater, das dritte Mal von Jolin, meiner Tochter. Jedes Mal wache ich zutiefst erleichtert auf – bis ich dann schnell merke, dass es nur ein Traum war.
Als ich nachts einmal raus gehe zum Pinkeln suche ich eine weitere Stunde – immer noch finde ich sie nicht. Langsam beginne ich zu überlegen, was die nächsten Schritte sein könnten, falls das so bleibt.
- Kann ich die Linse nachbestellen und mir von meinen Eltern mitbringen lassen? Eher schwierig – das Institut, bei der ich sie gekauft habe, gibt es nicht mehr, so dass die hinterlegten Werte nicht zugänglich sind.
- Kann ich in Ankara/… eine neue kaufen? Auch schwierig. Die Anpassung in Deutschland dauerte bei meinen komplizierten Augen mehrere Wochen. Das wird hier nicht einfacher sein.
- Kann ich mit den weichen Kontaktlinsen weiterfahren? Bestimmt, doch die Stärke passt nicht 100% und das Hantieren mit zwei verschiedenen Systemen wird umständlich sein.
- Kann ich mit der Brille fahren? Na klar, ich müsste nur schauen, wie die Sonnenbrillen darüber passen.
Es gibt also genügend Möglichkeiten, das beruhigt – doch sie muss ja irgendwo sein! So schnell gebe ich nicht auf. Ich werde weiter suchen, wenn es hell wird und krieche nun wieder in Zelt und Schlafsack.
Am nächsten Morgen weckt mich die Sonne. Schnell bin ich heraus, trinke etwas Wasser und begebe mich wieder auf den Boden zum Suchen. Ich denke an die Meditation meiner Tochter und atme tief. Vielleicht ist dies die Antwort auf meinen Wunsch nach mehr Zeit zum Meditieren? Wie lange will ich noch suchen? Ich beschließe, weiterzufahren, wenn ich die Kontaktlinse gefunden habe oder es anfängt zu regnen.
Einer spontanen Idee folgend lasse ich meine zweite Kontaktlinse aus einer ähnlichen Position fallen, um zu schauen wo sie hinfliegt. In dem Moment muss ich lachen, weil diese nun auch noch weg ist! Doch nicht für lange, ich finde sie schnell im Gras. Aber welche habe ich gefunden? Vielleicht ja die erste?? Eher nicht 😊 An dieser Stelle liegt auch keine weitere. Langsam wärmt die Sonne, ich freue mich über den Platz, über die Aussicht und überhaupt über mich und meine Reise.
Ungefähr zum vierten Mal kippe ich mein Fahrrad senkrecht und suche unter ihm – nichts. Als ich es wieder auf den Ständer stelle, liegt die Linse auf einmal da! Direkt vor meinen Füßen! Wo hat sie sich bloß so lange versteckt?
Ich kann es kaum fassen, freue mich, mein Jubel schallt über die Wiesen! Ungläubig öffne ich in den nächsten 10 Minuten immer wieder die Kontaktlinsendose um mich zu vergewissern, dass es diesmal kein Traum war. Demütig und wie beflügelt starte ich meine YogaÜbungen und baue das Zelt ab. Ein komisches Gefühl, einfach nur noch packen zu müssen. Ich bin glücklich, weil ich meine Kontaktlinse wiedergefunden habe, und noch glücklicher, weil ich weiß, dass ich auch sonst glücklich wäre! Warum sind wir uns nur so selten bewusst, wie gut es uns geht?
Meine Einstellung, das Positive in allem zu sehen, behagt nicht jedem. Manchmal ecke ich damit an. Es gibt Menschen, die werden sogar wütend und sagen, ich würde mir Situationen schönreden. Ich selber jedoch freue mich über meine Art, die Welt und mein Leben zu sehen, freue mich darüber hinaus, dass auch meine Kinder – wenn auch unterschiedlich – so positiv auf ihres blicken. Ich wurde einmal gefragt, wie ich das gelernt habe, ob ich mir diese Sicht beigebracht hätte oder wann sie entstanden sei. Ich kann mich nicht erinnern, dass es einmal anders war. Das wäre vielleicht eine spannende Frage an meine Familie.
Als ich eines Abends durch eine Schlucht kurve und nach einem Schlafplatz Ausschau halten, sehe ich rechts an einem kleinen Bach einen Wohnwagen stehen. Entgegen meiner sonstigen Art, mir einen einsamen Platz zu suchen, stelle ich das Fahrrad ab und gehe zu Fuß hinunter um zu fragen, ob ich dort ebenfalls schlafen darf. Eine gute Entscheidung! An der verlassenen Picknick-Gastronomie finde ich einen Pavillon für meine Hängematte und bekomme abends ein Gratiskonzert von Şakır und seinem Freund. Sehr beeindruckend, was die beiden und ihr Verstärker so auf die Beine stellen!
Am nächsten Tag durchquere ich mittags Cihanbeyli. Ich habe Glück, es ist Markttag! Meine reiche Ausbeute an Grünzeug verpacke ich gleich auf der Parkbank in einen Wrap. Da werde ich auf einmal auf Deutsch angesprochen. Gazı arbeitet seit vielen Jahrzehnten als Kulturbeauftragter in der Schweiz und verbringt hier seinen Urlaub bei seiner Mutter. Als er fragt, ob er mir behilflich sein könne, will ich schon dankbar verneinen. Doch dann fallen mir zwei Dinge ein: 1) Ich brauche Passbilder für meine Visaanträge, die ich schnell und sehr fachkundig bei einem seiner Freunde bekomme. (Mir war nicht bewusst, dass alle Länder dafür unterschiedliche Formate verlangen…) 2) Ich würde mich gerne bei Suna und Mecit mit einem Foto bedanken. Die beiden haben kein Internet, so dass Gazı es für mich übernimmt, das Bild auszudrucken und zu ihnen zu schicken. Danke für deine Unterstützung!
5 Kommentare
Angela Wiese
Liebe Anke, sooooviel positives. Ich bin zutiefst beeindruckt. Und danke dir aus vollem Herzen für’s mitnehmen. Weiterhin bon voyage. Angela
Claudia Bruschke
Ein wunderbarer Bericht zum Mitreisen in Gedanken.
Die Kontaktlinsensuche kann ich sehr gut nachvollziehen. Ich habe meine festen Linsen einmal in einem Pool verloren. Und wiedergefunden! Der jubel war riesig und die Freude hielt an!
Und Dank deiner positiven Einstellung erlebst du heute solche fantastischen Abenteuer :). Zelebriere es!
Margrit Timmann
oho Anke, welch ausführlicher und froher Bericht von dir, danke! Lâchelnd erinnerte ich mich an unsere Linsen Suche. Diesmal hast du Ausdauer und Zuversicht über Stunden, über Nacht gezeigt und bist belohnt worden! So wird frau zum Glückskind!!! Deine Mama
Michael Weisker
Wieder mal ein sehr schöner Bericht und weiterhin gute Fahrt! Dauert ja noch ein wenig, bis du ganz rum um die Welt und du kannst noch viel erleben!
Papa
Eine Geschichte von Nasreddin Papa:
Sei vorsichtig, wenn Du Dein Rad mit einem Wasserschlauch vom Lehm säubern willst. Ein Freund hat mal mit dem Strahl Dreck ins Kugellager gespült und brauchte hinterher ein neues Vorderrad.