gen Osten,  Türkei

Türkei – Europa

4.-12.5.23

Eineinhalb Tage bin ich von der Küste durch die grünen Berge Bulgariens gefahren. In 650 Meter Höhe gelange ich schließlich über eine ruhige Straße an einen Pass und die kleine Grenze, nun also Türkei!

Anfangs sieht es sehr ähnlich aus: auch hier grüne Berghänge, schöne Aussichten. Doch ab dem ersten Dorf merke ich, was hier anders ist:

  • die Moscheen – na klar! Waren die orthodoxen Kirchen, die in den letzten Ländern vorherrschten, recht unauffällig, da der Kirchturm fehlte, ragen nun die Minarette wie unsere Kirchtürme weit sichtbar in den Himmel. Dazu gehören natürlich auch die regelmäßigen Rufe des Muezzin, dem Ausrufer, der die Muslime fünfmal täglich lautstark zu bestimmten Uhrzeiten zum Gebet („Salat“ – eine der 5 Säulen des Islam) aufruft. Häufig wurde früher ein Blinder mit dieser Aufgabe betraut, da er nicht von der Plattform (Scherefe) des Minarett aus Orte einsehen konnte, an denen sich Frauen aufhielten. Inzwischen wird der Ruf meist über Lautsprecher von anderer Stelle aus übertragen oder ganz vom Tonband abgespielt. Die fünf Zeiten ändern sich täglich über das Jahr hinweg, da sie vom Stand der Sonne ausgehen: 1) zur Morgendämmerung, 2) sobald die Sonne sichtbar den Zenit überschritten hat, 3) wenn der Schatten (s) eines senkrechten Gegenstandes um die Länge (l) des Gegenstandes größer ist als zu Mittag, wenn also s = s0 + l, 4) kurz nach Sonnenuntergang und 5) wenn der rote Schimmer des Abendlichts verschwunden ist. Ich mag diese Rufe, finde sie sehr heimelig. Sie strukturieren den Tag, sagen mir „hier ist jemand“, „es gibt eine Gemeinschaft“. Besonders Abends ist es oft das, was ich vor dem Einschlafen neben den Naturgeräzschen als letztes noch höre.
  • Die Teestuben: in jedem Dorf und sei es noch so klein, sitzen Männer zusammen an Tischen, am Rand der Straße oder auf einer Veranda. Meist grüßen sie freundlich zurück, wenn ich rufe „Günaydın! İyi günler! İyi akşamlar!” (guten Morgen, guten Tag, guten Abend), dennoch gibt es mir ein Gefühl des Andersseins. Ich werde herausfinden, was passiert, wenn ich mich dazu geselle, Frauen halten sich hier nicht so öffentlich auf.
  • die Hunde: ich weiß nicht, wie es passiert ist, aber mit dem Überqueren der Grenzlinie sind die Hunde auf einmal auf die doppelte Größe herangewachsen. Wie kleine, schlanke Kälbchen oder Ponys traben sie neben mir her, mit einem Schultermaß von knapp einem Meter schon etwas anderes als die kleinen, kläffenden Mischlinge der letzten Wochen. Von den „Kangals“, den türkischen Hirtenhunden, habe ich schon viel gehört – selten Gutes… Sie wirken auf mich bisher eher ruhig und besonnen, ich bin gespannt, wie sich meine Erlebnisse mit ihnen sich entwickeln. Inzwischen habe ich mir Hunde-Leckerlis gekauft und versuche sie zu bestechen.
  • die Sprache: vor 20 Jahren habe ich auf einigen Reisen begonnen türkisch zu lernen. Ich mag diese Sprache sehr gerne. Im Hinblick auf meine Tour versuche ich seit ca. einem halben Jahr, meine Kenntnisse wieder aufzufrischen. Ich merke wie damals, dass ich schon eine ganze Menge erzählen und fragen kann. Beim Verstehen der Antwort endet es leider meist. “Yavaş konuş, lütfen!“ – sprechen Sie bitte langsam!“, hilft da auch nur selten weiter.

Von einem Kontakt aus der WhatsApp-Gruppe „Zijderoute“ (Seidenstraße) hatte ich erfahren, dass von Ende April bis zum 19.5. hier im Westen der Türkei das „Rainbow Gathering Balkan“ stattfindet. „Rainbow“ – da klingelten meine Ohren! Schon viel davon gehört und früher auch viel Ähnliches erlebt und selbst veranstaltet, war ich doch noch nie dabei gewesen. Also los! Ich plane zum Vollmond dort zu sein, da dies als ein großes Fest gefeiert wird. Auf kleinen und sehr kleinen Straßen durch wieder einmal beeindruckende, zauberschöne Landschaften gelingt mir dies dann auch. Die Strecke war teilweise recht fordend, viel Schotter, Schieben durch Schlamm, der sich an den Reifen festsetzt und die Räder blockiert, das Finale dann ein Wandersteig über mehr als eine Stunde (pushbike…), zum Glück meist begab, sonst wäre das nicht möglich gewesen. Doch dann war ich da – an einem traumhaften Ort! Wald und eine weite Wiese mit einem kleinen Fluss / größeren Bach. Stille begrüßte mich, da sie dort den Vormittag vor Vollmond schweigend verbrachten. Aber am Welcome-Fire fand ich Menschen, die mir bereitwillig erzählen, wie es hier so läuft. Mehrere hundert Menschen aus vielen Ländern (Türkei, Bulgarien, Rumänien aber auch Westeuropa, Russland, Israel) treffen sich hier selbstorganisiert, ohne Hierarchie mit gemeinsamen Wertvorstellungen wie Kollektivität, Pazifismus, Spiritualität, Basisdemokratie und Umweltschutz als „Rainbow Family“. Anfallende Entscheidungen werden nach dem Konsensprinzip getroffen, Gewaltfreiheit, kein Alkohol und Drogen, keine Handys (darum auch keine Fotos) sind vereinbart und meist wird sich auch daran gehalten.

Zentrales Element des Treffens ist der Kreis. Im Zentrum des Lagers aus Zelten und Tipis befindet sich eine große Feuerstelle, an der wir zweimal täglich zum gemeinsamen veganen, regionalen Essen (Food Circle) zusammenkommen. Es gibt keine Anmeldung, keine Teilnahmegebühr, das Geld für die Verpflegung wird nach jedem Essen im Magic Hat eingesammelt, jede:r gibt, was sie/er kann und mag. Die Mahlzeiten sowie wichtige Informationen (z.B. „help in the kitchen!“) werden per Ruf angekündigt, die wiederholt werden und sich so über das ganze Lager fortsetzen. Es wird viel gesungen, geredet, gelacht, sich umarmt, jongliert. Vielerlei Workshops werden angeboten.

Mir tun die Tage hier sehr gut. Ich genieße es mit Menschen zu sein, die ähnlich denken und sich Ähnliches wünschen wie ich. Sie geben mir neue, andere Impulse für das Denken auf meiner Reise. Auch fünf weitere Radreisende treffe ich hier, mit denen ich noch lange Zeit in Verbindung stehe.

Manchmal fühle ich mich hier – inmitten der großen Gruppe – einsam. Zum ersten Mal auf meiner Reise! Braucht man andere Menschen, um sich unter ihnen einsam zu fühlen? Gibt es nur in der Gruppe ein Dazugehören und Draußensein? Spannend…

Nach vier Tagen mache ich mich wieder auf. Viele raten mir zu bleiben. Ich weiß, dass vier Tage zu wenig sind um wirklich anzukommen. Doch mich zieht es weiter. Ich möchte reisen! Noch ist nicht die Zeit zum Bleiben. Vielleicht passt es zum World Rainbow im September in Nepal 😊

Der nächste Ort steht auch schon länger auf meiner Liste: Lüleburgaz! Ich glaube, jeder Radreisende auf dem Weg von West nach Ost oder andersherum hat davon gehört oder war hier: in der Rad-Akademie. Anknüpfend an das Prinzip der Dorfinstitute aus der jungen Türkei sind in dieser Stadt 5 Akademien gegründet worden, in der Bürger jeden Alters sich kulturell, künstlerisch und sportlich betätigen können: die Lüleburgaz Stars Akademien für Kunst, Sport, Frauen, Jugend und eben Bisiklet = Fahrrad. Hier gibt es Kurse, Cafes, Kinderbetreuung, Büchereien, offene Gärten, in denen Beete verlost werden, Kleiderkammern und vieles mehr. Das macht wirklich einen sehr guten Eindruck!
In der Rad-Akademie können sich Menschen alles Alters Räder ausleihen und Fahrrad fahren lernen. Radreisende können hier umsonst schlafen, duschen, Wäsche waschen. Vor allem aber ist hier ein Treffpunkt! Ich gebe meine Begeisterung vom Rainbow weiter, worauf gleich vier Menschen ihre Reisepläne ändern, teile die Tipps vom Donaudelta und der Ukraine. Dafür erzählen mir die anderen von Orten in der Türkei. Abends kochen wir gemeinsam (zum Glück hat einer einen großen Topf mit), ich bereite Helva zu, nach einem Rezept, das ich auf dem Rainbow kennen gelernt habe. Fahrräder werden geputzt und repariert, Ausrüstung wird begutachtet und verglichen. Nach mir kommen Marine und Gael, die ich schon auf dem Rainbow Treffen kennen gelernt habe. Claire ist die erste „Woman on Weels“ – WoW (alleinreisende Fahrradfahrerin), die ich treffe. Seit mehreren Jahren, unterbrochen von Covid, fährt sie mit großem Gepäck um die Welt. Ihr nächstes Ziel: das Nordkap.
Vor einigen Jahren gab es eine Aktion, in der Fahrradflaschen aus Plastik gegen welche aus Metall eingetauscht werden konnten. Samt rührenden Abschiedsbriefen stehen sie hier in langen Regalen. Endlich habe ich den richtigen Platz gefunden, mich von meiner Flasche mit Loch zu verabschieden! Findet ihr sie auf dem Foto?
Herz und Seele von allem ist Inanc, lange Jahre ehrenamtlich als „Volunteer“, jetzt (für wenig Geld) angestellt, der übrigens dringend Adoptiveltern in Deutschland sucht, um ausreisen zu können! Herzlich, zupackend, humorvoll hilft er, informiert und posiert 2x täglich für Gruppenfotos. Solche Orte sollte es in jedem Land geben!

Nach 2 Nächten in Lüleburgaz schlängele ich mich weiter durch den europäischen Teil der Türkei. Gute Campingplätze zu finden, ist hier gar nicht so leicht. Viele Felder, wenig Bäume, kaum natürliches Wasser. Ich vermisse das Baden morgens in den Flüssen und Meeren, das mir bisher einen geliebten, belebenden Start in den Tag geschenkt hat. Aber noch regelmäßiger als in Bulgarien befinden sich hier Wasserstellen in den Dörfern und an den Straßen. Jeder Mensch mit Geld ist verpflichtet, eine zu bauen. Darum sind sie auch alle mit Namen und Jahreszahl versehen.

Zum ersten Mal weht der Wind längere Zeit von vorne, mein Mund ist ständig trocken, es ist laut in den Ohren, so laut, dass mein Handy mich nicht mehr versteht, die Ablenkung des Blog-Diktierens wegfällt. Ich freue mich über jede windstille Senke und jede kleine Strecke, in der der Wind nur von der Seite kommt.

Ich nähere mich Istanbul, die Städte am Weg ähneln immer mehr Vororten. Auf den Straßen befinden sich fast nur noch LKW außer mir, wahrscheinlich ist die Autobahn für sie verboten. Industriegelände und Fabriken, wechseln sich ab mit Feldern und Wäldern.

Wie ist der beste Weg nach Istanbul? Das ist eine Frage, die viel unter Radreisenden diskutiert wird. Ich habe mich dafür entschlossen, das letzte Stück mit einer Fähre zurück zu legen. Eigentlich von Sarıyer aus, einem Ort nördlich am Bosporus. Als ich jedoch den Fahrplan checke, sehe ich, dass sie nur einmal pro Werktag fährt und gar nicht am Wochenende. Ich werde aber am Samstag ankommen. Also ändere ich meine Strecke Richtung Süden zum Hafen von Avcılar. Das passt auch besser zur momentanen Windrichtung. Eine letzte Nacht im Park am Ufer des Marmara-Meeres in der Hängematte – morgen bin ich in Istanbul!

4 Kommentare

  • Papa

    Das Warten auf den ersten Türkei-Beitrag hat sich gelohnt. Jetzt bin ich noch mehr auf Istanbul gespannt.
    Schön, dass Du Dir Zeit für das Rainbow-Camp und die Lüleburgas-Academy genommen hast. Toll, wie Du den Spannungsbogen baust. LG Papa

  • Michael Weisker

    Sehr schön, mal wieder von dir gehört zu haben. Da kann man auch verkraften, dass Bayern wieder Meister geworden ist🙈🙊🙉🤣

  • Richard

    Hallo Anke,
    Marlies und ich sind gans begeistert von Deinem Berichten. Ich spiegele Deine Fotos und die dazugehörigen Texte auf unseren großen Fernseher und dann können wir in aller Ruhe uns am Abend die schönen Bilder ansehen.
    Im Moment bin ich gerade bei Deinen Elterm zum Pfingstbesuch und Dein Vater hat mir das neueste Bild mit der wunderbar gelungenen Aufhängung der Hängematte vom Baum zum Felsen gezeigt. Prima gelungen.
    Dir weiterhin alles Gute und Liebe.
    Viele liebe Grüße
    Richard

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