gen Osten,  Türkei

Türkei – Ost

2.-13.6.2023

Heute geht es meinem Magen nicht gut, seit gestern Abend ist mir unwohl. Es ist das erste Mal auf der Reise, dass ich kränkele. Vielleicht war doch die ganze Wassermelone auf einmal zu viel? Oder sollte ich mein Gemüse in Zukunft besser waschen? Ich merke nun im Vergleich, wie fit ich bisher war und bin dankbar für meine stabile Gesundheit. Heute tue ich mich an den Steigungen schwer, das Gewicht meines Fahrrades zieht nach hinten-unten.

Ich habe mich für einen Weg abseits der großen Straße entschieden und muss über einen Pass in 1600m Höhe. Nicht die Welt, aber doch ganz schön viel, im Dorf unten werde ich vor der steilen „Rampa“ gewarnt. Ich denke mir, es wird schon gehen, doch als mir am steilsten Stück ein Treckerfahrer anbietet, mich am Anhänger fest zu halten, nehme ich dann doch dankbar an. Mehmet spricht sehr gut englisch. Auf die Frage warum, erzählt er mir, dass er 20 Jahre in der Gastronomie gearbeitet hat, unter anderem in Antalya, Dubai und Russland. Auf dem Dorf mit acht Geschwistern aufgewachsen musste er sehr früh arbeiten gehen. In der Corona-Zeit sah er die Gelegenheit nach Hause zurückzukehren und wurde zum Schäfer. Er startete seine Herde mit 70 Schafen, heute hat er 500 Tiere. Jeden Morgen von fünf bis zehn Uhr führt er sie raus, jeden Abend von 17 bis 22 Uhr noch einmal. Dazwischen melkt er seine 100 Ziegen. Die Milch verarbeitet seine Mutter zu Käse, der verkauft sich gut, da er laktosefrei ist. Die Schafe werden nicht gemolken, ihre Milch bekommen die Lämmer, damit sie besser wachsen. Er schwärmt von dem Leben hier im Dorf und auf seinem Hof in den Bergen. Draußen zu sein, die eigenen und die wilden Tiere zu erleben und die Freiheit, nicht für einen Chef sondern für sich selber zu arbeiten, gibt ihm die Motivation, die langen Arbeitstage zu genießen. Er meint mit dieser Arbeit in zehn Jahren genug Geld verdienen zu können, um sich zur Ruhe zu setzen – mit 45! Vor einigen Tagen ist Ahmet, einer seiner Brüder zu ihm gezogen und hilft ihm nun. Auch er hat vorher im Restaurant gearbeitet.

Nach dem gemeinsamen Kaffee auf seinem Hof werde ich wieder wegen der Schäferhunde zur Straße und meinem Fahrrad begleitet. Ich genieße die lange Abfahrt durch grüne Hänge und finde später einen Platz zum Übernachten auf einer Wiese, an dem ich zwar keinen großen Fluss zum Baden habe, aber zumindest einen Bach zum Waschen. Das erste fließende Wasser seit zehn Tagen! Gegen dieses frische, kühle Quellwasser kann meine schnelle Dusche mit der Fahrradflasche, die sonst zu meinem Abend Ritual gehört, nicht mithalten!

Vormittags weht kräftiger Wind. Ich nutze den Sonnenschein zum Erholen und liege nackt auf meiner Decke herum. Hierfür gibt es in der Türkei wenig Platz, da ich selten ganz sicher alleine bin, das bedaure ich manchmal. Auch hier hupt es nach einige Zeit: höflich meldet das Auto sein Nähern an. Inzwischen ist es auch Zeit zu fahren, ich ziehe mich an, packe den Rest und mache mich auf den Weg zwischen vielen Pferdeweiden Richtung Kayseri.

Mohammed aus dem Iran, hat über die WhatsApp-Gruppe „Cycling East“ angeboten, dass ich bei ihm und seiner Freundin in Kayseri schlafen und Wäsche waschen kann. Seit Istanbul ist dies die erste Gelegenheit hierfür und somit dringend nötig. Er arbeitet als Fahrradmechaniker sieben Tage die Woche, ist also eigentlich nonstop im Laden. Gerade zieht das Geschäft um, so dass seine Arbeitstage extrem lang sind. In nur zwei Jahren hat er fließend türkisch gelernt, so gut, dass er die Homepage und den Online-Verkauf des Fahrradladens betreut. Ich kann in der Werkstatt einige Kleinigkeit reparieren und die Kette reinigen. Später zu Hause lerne ich seine Freundin kennen. Sie ist Künstlerin, beide wollen eigentlich nach Europa. In der Türkei fühlen Sie sich nicht wohl, meinen jedoch es sei das kleinere Übel als der Iran. Die Begegnung beeindruckt und berührt mich wieder einmal. Durch unsere Geburt in Deutschland sind wir unverdient an unzählige Privilegien gekommen: Kein Hunger, kein Durst, gute medizinische Versorgung, ein Pass, der zu sehr vielen Ländern die Grenzen öffnet, die Freiheit sagen und lernen zu dürfen, was ich will, zu lieben, wen ich will. Dass dies alles nicht selbstverständlich ist, wird mir auf dieser Reise oft sehr deutlich. Vielleicht weiß jemand von den Leser:innen besser als ich, welche Möglichkeiten es für Mohammed in Deutschland/Westeuropa gibt. Er wäre für jeden Fahrradladen ein Gewinn!

In Kayseri geht es mir wieder wie in Istanbul: Ich bin von der Größe der Stadt überfordert und schaffe es nicht zu organisieren, was vielleicht wichtig gewesen wäre. Von Istanbul wusste ich, dass die Stadt riesig ist. Bei Kayseri war ich nicht auf die 1,5 Millionen Einwohner vorbereitet. Meinem Magen geht es besser, ich habe ausgeschlafen und meine Sachen neu gepackt. Spät am Nachmittag besuche ich Mohammed im neuen Laden und bin danach froh, als ich die große Ausfallstraße erreicht habe. Diesmal habe ich es versäumt nach einer neuen Landkarte zu schauen. Meine mitgebrachte deckt nur die Türkei-Süd und -Mitte ab, der Osten fehlt. Detailliert navigiere ich mit meinem Handy, doch um einen großen Überblick zu haben und für das Gespräch mit den Menschen vor Ort, liebe ich Landkarten aus Papier. Ich bin schon fast aus der Stadt heraus, als mir die Karte wieder einfällt. Ich suche per Google nach einem Buchladen und finde ihn in einem kleinen Einkaufsviertel der Vorortes. Der Buchladen dort ist eher ein Schreibwarenladen, an Landkarten hat er nur einen dicken Autoatlas und eine Wandlandkarte aus Kunststoff. Nun ja, ich werde auch ohne klarkommen. Ich lerne daraus, noch bessere Listen zu führen und vor allen Dingen rechtzeitig drauf zu schauen…

Am nächsten Tag fahre ich 80 km mit 1000 Höhenmetern – ich bin wieder fit! Ich habe mir eine kleine Straße ausgesucht, die mich durch die Berge führt. Jeder neue Blick lässt mich schwärmen. Was leben wir doch auf einem wunderbaren Planeten! Wir sollten alles mögliche tun, ihn in seiner vollen Schönheit zu erhalten! Hier gibt es ihn noch, den freien Raum zwischen den Dörfern, Ackerflächen, aber auch Brachland, kleine und größere Hügel, an den Hängen Wälder, manchmal auch Wiesen oder Geröllhalden.

Ich habe mir zum Übernachten einen See ausgeguckt. Ein wenig abseits der Straße liegt er blau vor mir. Häufig führt ein kleiner Weg zu Gewässern, der oft auch von Anglern benutzt wird. Zu diesem jedoch nicht. Ich gehe also wieder aufs Schlamm-Expedition. Inzwischen habe ich Erfahrung, versuche auf den Grasbüscheln zu bleiben und nicht in den Schlick zu geraten. Am Ende stecke ich trotzdem wieder fest, unter den Schuhen und an den Reifen klebt er und verhindert jegliche Bewegung. Doch als gar nichts mehr geht, bin ich auch schon angekommen: weit genug weg vom Ufer, um eine trockene Wiese zu haben, nah genug dran, um baden zu können. Also bleibe ich hier, baue mein Zelt auf, schwimme eine Runde und schlafe danach beseelt und schnell ein. Nachts höre ich im Halbschlaf ein Gewitter, gut dass ich das Zelt aufgebaut habe… Morgens scheint die Sonne, was ich gerne ausnutze, um in Ruhe meine Sachen nach dem nächtlichen Regen zu trocknen. Hier bin ich nun mal wirklich ganz alleine und kann in Ruhe nackt baden. Gleichzeitig hoffe ich auch auf bessere Wegverhältnisse. Der Plan ging auf: die meisten Schlammplocken sind mittags getrocknet und lassen sich vom Rad abpulen. Auch der Weg ist inzwischen so fest, dass ich das Rad ohne großen Aufwand schieben kann. Dafür kriechen nun überall Mini-Frösche herum – tausende – ach was: Millionen! Wie Ameisen sehen sie im Gras aus! Ich rufe laut: „Achtung!“, befürchte jedoch, dass nicht alle rechtzeitig zur Seite springen konnten… Entschuldigung! Der Rückweg zur Straße kommt mir viel kürzer vor als gestern, auf jedenfalls ist er viel weniger beschwerlich 😊

Diese einsamen Strecken sind herrlich, alle halbe Stunde kommt ein Auto vorbei, dessen Fahrer freundlich winkt, Schäfer und Bauarbeiter grüßen vom Straßenrand. Letztere laden mich ein, mit ihnen Pause zu machen. Wir sitzen auf der Straße, teilen Kekse und Getränke und tauschen Instagram-Adressen, das ist hier ganz wichtig. Auch ich habe inzwischen eine Seite dort und übe mich in Stories, Beiträgen und Reels 😵‍💫 (@goingandflowing).

Im nächsten Dorf möchte ich einkaufen. In der Türkei ist es gar nicht so einfach an Gemüse zu kommen. Hier ist das Angebot meist getrennt: Frisches Obst und Gemüse gibt es nur auf den wöchentlichen Märkten, die auf Plätzen oder in Straßen, manchmal auch überdacht stattfinden. In den kleinen Läden auf den Dörfern gibt es gar nichts Frisches, hier bekommt man viele Kekse und Chips, dazu gibt es einige Trockenwaren, Konserven, Getränke, Drogerieartikel und ein kleines Kühlregal mit Milch, Käse und Wurst. Selbst in den Supermärkten der größeren Orte findet man nur ein sehr reduziertes Angebot an Obst und Gemüse. Die Märkte finden aber nur einmal die Woche statt, so dass ich immer ein wenig auf mein Glück angewiesen bin, wann ich einen erwischt und wieder frisches Grünzeug bekomme. In dem Dorfladen hier finde ich die leckeren Sesamkringel, auch das reicht mir erst einmal. Doch als ich weiter fahren will, beginnt es zu donnern und zu regnen, so dass ich mich spontan entscheide, für Çiğ Köfte zu bleiben, eines der verbreiteten veganen Gerichte der Türkei. Dieser steht zwar im Schaufenster des Lokals neben dem Laden angeschrieben, die Bedienung verneint jedoch meine Bestellung. Sie schickt mich in den Imbiss gegenüber. Dort ist das Restaurant aber schon geschlossen. Ich gehe also wieder zurück, kaufe mir einen Ayran und frage nach einer Steckdose zum Laden. Als ich sitze, beginnt der Junge, den Boden zu fegen und zu wischen. Vielleicht gab es doch Köfte, nur hatte das Restaurant schon geschlossen? So ist das, wenn man nicht alles versteht, man muss immer ein wenig raten… Eigentlich ist es aber auch egal, der Regen hört auf, ich fahre weiter. Zwei Ecken später sehe ich einen Supermarkt in einer Seitenstraße. Vielleicht finde ich hier Gemüse! Kurz nachdem ich hinein gegangen bin, beginnt es heftiger als zuvor zu schütten. Ich dehne meinen Einkaufsbummel durch die drei Gänge noch etwas aus und bleibe auch nach dem Bezahlen im Laden, um den Guss abzuwarten. Dann endlich will ich mich aufmachen, um noch einige Kilometer vor der Dunkelheit zu fahren, inzwischen ist es schon Nachmittag. Keine 10 Minuten später werde ich aus einem vorbeifahrenden Auto angesprochen: „Nerelisiniz?“ (= Woher kommst du?). „Almanya’dan!“ (= aus Deutschland) antworte ich. Der Fahrer lacht und sagt im akzentfreien Deutsch: „Wir kommen aus Remscheid und sind gerade heute gelandet. Wir schauen für eine Woche im Haus unserer Eltern nach dem Rechten und haben unsere Mutter für den Sommer hergebracht“. Schnell kommen wir in ein tiefes Gespräch. Die Brüder erzählen sehr informiert von der Vergangenheit dieses Dorfes. Wir unterhalten uns über ihre Erfahrungen, früher als Kinder eines sogenannten „Gastarbeiters“ und heute als Väter von türkischen Kindern in Deutschland. Ich bin sehr interessiert und auch sie freuen sich über unsere Begegnung und laden mich zu sich ein. Ich zögere kurz, schließlich ist es noch früh und ich bin heute kaum 10 km gefahren. Was soll’s? Wozu bin ich denn hier? Doch nicht um Kilometer zu reißen, noch dazu wenn ich solch interessierten und informierten Menschen begegnen kann! Ich drehe mein Fahrrad um und rolle den Berg, den ich gerade noch hoch gefahren bin, wieder hinunter um dann dem Auto auf den Hügel am anderen Ende des Dorfes zu folgen. Mich belohnt eine herrliche Aussicht über das ganze Tal. Wir beginnen die Auffahrt von Unkraut zu jäten, ansonsten kann ich hier endlich alle Fragen stellen, die mir im letzten Monat untergekommen sind. Die beiden Brüder sind sehr verschieden, jedoch gleich herzlich und lustig. Insbesondere Irfan gibt mir einen Einblick in die türkische Politik der letzten Jahre und erzählt mir, was er an der Einstellung Erdoğans schätzt. Unter anderem seine Idee von der Gleichheit des Menschen. Wir essen gemütlich gemeinsam mit der Mutter, auch die Nachbarin kommt mit selbstgebackenem Brot vorbei. Später gehen die Brüder ins Dorf, um sich mit ihren vielen Cousins zum Teetrinken zu treffen. Nach dem Frühstück am nächsten Morgen fahre ich mit vielen neuen Gedanken weiter.

Die nächste Nacht verbringe ich auf 1700 m Höhe. An mehreren Stellen tritt eine Quelle aus dem Berg hervor. Es gibt eine Wasserstelle für die Herden zum Trinken, für mich zum Duschen. Zum Baden in der großen Wanne ist mir das eisige Wasser zu kalt. Ich schlafe herrlich unter Sternen und Vollmond mit dem sanften Gemurmel des Baches im Ohr. Morgens steigt das Thermometer schnell wieder auf über 30° Grad. Mein Weg führt über die weite Hochebene, über mir kreisen Adler und Geier. Manchmal geht der Asphalt in schlechten Feldweg über, doch meist nur bis im nächsten Dorf die Straße wieder beginnt. So stelle ich mir auch das Reisen in Zentral-Asien vor. Nur ca 2000 Meter höher…!

Was bestimmt auch dort ähnlich sein wird und besonders mich als Gemüseliebhaberin belastet, ist der Mangel an Grünzeug. Wie schon beschrieben, ist es nicht leicht Märkte zu finden. Hier oben ist es zwar grün, doch es wächst nur Getreide und Gras. Manchmal bin ich versucht, auch dieses zu essen, tue es dann aber doch nicht. Ich denke, dass mein Mineralstoff- und Vitamin-Speicher gut aufgefüllt ist, doch fehlen tut mir dieser Teil der Nahrung schon sehr.

Eines Abends geht meine Gas-Kartusche leer und ich wechsle den Adapter für die neue mit dem anderen System aus. Mit einem Zischen entweicht auch nach dem Festdrehen noch Gas. Beim Nachschauen bemerke ich, dass der letzte Adapter die Dichtung des Kochers beschädigt hat. Zuhause habe ich mir so viel Gedanken über die verschiedenen GasKartuschen gemacht, drei verschiedene Adapter mitgenommen und nun kann ich den Kocher an sich nicht mehr benutzen? Das kann nicht sein! Ich frage im nächsten Dorf nach einer Dichtung (conta), doch hier gibt es sie nicht. 30 km später komme ich nach Ulaş, einem kleinen Städtchen. Der erste Technik-Kramladen hat schon geschlossen, der Inhaber ist zwar noch da, winkt aber ab: die gäbe es hier auch nicht. Ich müsste nach Sivas, in die nächste Großstadt. Auch das wäre kein großes Problem, sie ist nur 40 km entfernt. Doch einige Läden weiter liegen Abflussrohre vor der Tür, das sieht nach Handwerkern aus. Ich probiere es hier noch ein weiteres Mal. Volltreffer! Die beiden jungen Männer bemühen sich sehr, kramen in ihren Dosen und pulen schließlich die Dichtung aus einer Zuleitung zum Waschbecken heraus. Als ich schüchtern nach einer zweiten frage, wird auch diese organisiert, Geld wollen sie keines dafür. Aber ich werde zum Kaffee eingeladen und bekomme danach das Fußballheim zum Übernachten angeboten. Es ist schon 19 Uhr und die versprochene heiße Dusche lockt mich. Ich werde mir dem Auto hingeleitet, das Fahrrad kommt in die Umkleideräume im Erdgeschoss und ich selber habe den ersten Stock für mich: Küche, Salon, Schlafzimmer, mit eigenem Bad! Dies sei das “mısafır hane” (Herberge für Gäste), so sagen sie. Von einem solchen hatten auch schon Irfan und Şakır aus ihrem Dorf erzählt. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob diese eine ständige Einrichtung sind oder ob einfach nur Reisende dort untergebracht werden, wo es gerade möglich ist (Fußballheim, Vereinsheim, Gemeindehaus). Ich habe noch mehr als zwei Wochen Zeit, dies heraus zu finden.

Beim Frühstück am nächsten Morgen, zu dem ich in den Laden eingeladen wurde, werde ich nochmals eindrücklich vor meiner geplanten Strecke gewarnt. Nein, diesmal nicht nur vor der „Rampa“ (=Steigung), sondern vor allen Dingen vor den wilden Tieren. Hunde? Wölfe? Nein, ayı – Bären! Ich bin hin und hergerissen, auf der einen Seite nehme ich natürlich die Warnungen der Einheimischen sehr ernst. Auf der anderen Seite ist es für sie einfach unvorstellbar, wie ich zu reisen, so dass sie oft Sachen gefährlich oder unmöglich finden, die für mich relativ normal sind. Das Frühstück bekommt Akin jeden Morgen von seiner Mutter in den Laden gebracht, da er der einzige Mitarbeiter ist. Es gibt Fladenbrot, Tomaten, Gurken, Oliven, etwas Schafskäse und natürlich Çay. Anfangs sind wir alleine und schauen Nachrichten, er und seine Familie gehört zur Opposition und bedauern das Ergebnis der Wahl. Nach einer Weile kommen immer mehr Menschen zu uns auf einen Tee und ein Stück Börek. Eine Besucher stammt aus einem Dorf in den Bergen. Auf einmal ist meine Strecke kein Problem mehr, sondern wunderschön. Das verwirrt mich nun vollends. Doch da ich vorher schon insgeheim entschieden hatte, nicht auf dem Schnellweg durch das Tal, sondern über die kleinen Straßen in den Bergen zu fahren, bin ich nun noch beruhigter und mache mich auf den Weg. Es werden weitere drei Tage folgen, in denen ich nicht viel Zivilisation zu Gesicht bekomme. Die Dörfer hier oben haben meist noch nicht mal die üblichen Miniläden. Doch ich habe ja (hoffentlich) keine Probleme und im Notfall gibt es alle 10-20 km einige Häuser, in denen ich Hilfe bekommen könnte. Ich denke an die Wanderung mit Claudia vor vier Jahren in Amerika. Auch dort füllten wir immer unsere Vorräte für eine Woche in der Wildnis auf. Ich bin froh, dass ich die Strecke bis nach Georgien mit so viel Zeitpuffer geplant habe. Durch diese Gegend auf der „Autobahn“ durchzurauschen, wäre wirklich ein Verlust gewesen.

Als ich beim Frühstück gefragt wurde, wie alt ich bin und 50 Jahre antwortete, wechselte die Anrede danach auf einmal von Abla (große Schwester) auf Halal (Tante). Das fühlte sich ungewohnt an. Die andre Anrede Abla genieße ich dagegen hier sehr. Es gibt einem gleich das Gefühl, dazu zu gehören. Männer nennt man hier Abi (großer Bruder), sehr viel ältere Amcam (Onkel), jüngere Kardeşim (Geschwister). So spricht man den anderen persönlich an, auch wenn man seinen Namen nicht kennt. Als gehören wir alle zu einer großen Familie!

Seit einigen Tagen regnet es jeden Abend. Vormittags strahlt der Himmel blau, es ist über 30, doch gegen fünf oder sechs Uhr ziehen Wolken auf und es kommt ein Gewitter. Sehr heftig, oft mit Hagel. Heute hört der Regen nicht auf. Langsam folge ich einer Kuhherde in das Dorf. Diese haben hier auf der Straße immer Vorfahrt. Die Tiere biegen links und rechts ab und finden alleine ihren Weg in den jeweiligen Stall. Ich stelle mich in einer offenen Garage unter und möchte hier meine Regensachen anziehen. Doch bevor ich sie auspacken kann, werde ich ins Haus zu einem Tee eingeladen. Hier ist es warm und trocken. Der Tee ist dann zwar ein türkischer Mokka geworden, doch auch danach hört es nicht auf zu schütten. Ich werde eingeladen zu bleiben. Das Leben hier spielt sich im Wintergarten ab, einen vorgebauten Raum vor dem eigentlichen Haus. Auch hier stehen die beiden Sofas wir entfernt, gesessen wird auf dem Teppich. Das Wohnzimmer dahinter wird nur zum Fernsehen genutzt. Ich folge Yazın und ihrer Schwiegertochter in den Stall. Hier stehen ihre 15 Kühe, von denen 11 von ihnen mit der Hand gemolken werden. Die Milch wird in großen Töpfen auf dem Holzfeuer gekocht und dann zu Käse verarbeitet. Außer den Kühen gibt es hier noch viele Hühner und Enten. Ich bin wieder einmal hin und hergerissen. Auf der einen Seite weiß ich, dass es morgen früh sonnig sein wird, alles wird gut trocknen, und ich hätte einen Abend, eine Nacht und einen Morgen für mich in den herrlichen Bergen. Auf der anderen Seite freuen sich die Menschen hier über meinen Besuch, ich glaube nicht, dass ich eine große Last bin. Hier habe ich die Möglichkeit, das Leben in der Türkei ein wenig kennenzulernen. Ich entscheide mich zu bleiben. Schnell hole ich die wenigen Sachen, die ich für die Nacht brauche. Wir stellen mein Fahrrad in die Garage hinter dem Haus, in der auch der Käse zubereitet wird. Ich dusche schnell, meine Sachen kommen in die Waschmaschine. Abends spiele ich mit dem kleinen vierjährigen Sohn, der große Zehnjährige ist anfangs sehr schüchtern. Später gibt es Reis mit Hühnchen und Salat. Wir gehen früh ins Bett. Ich schlafe auf dem Sofa im Wintergarten. Morgens sind Hülya und Yazın früh im Stall zum Melken. Ich kann ein wenig helfen, indem ich die Spülmaschine aus und mit dem Geschirr von gestern Abend wieder einräume. Nach dem Frühstück, zu dem es eine Art Arme Ritter gibt, mache ich mich auf. Auf in die Berge, in denen wieder der hellblaue Himmel über dem frischen Grün leuchtet. Heute werde ich zum ersten Mal über 2000 m hoch fahren.

Wie wenig man doch braucht! Ich zumindest 😁! Sobald die Wasserversorgung gesichert ist, kann ich ohne Probleme eine Woche und mehr in der Natur sein. Wer meinen Blog liest weiß, wie oft ich schon von der Landschaft geschwärmt habe, wie oft ich überwältigt und begeistert war. Hier ist es noch mal schöner, berührender, überwältigender. Ich weiß gar nicht, wohin ich zuerst schauen soll. Zum Glück gibt es keine Autos hier, so dass ich die volle Breite der Straße für meine Schlangenlinien ausnutzen kann, um den Blick aus allen Richtungen einzufangen.

Wie wenig selbstverständlich Straßen in diesem bergigen Gebiet sind, zeigt ein Gedenkschild, das im Felsen eingelassen ist: Hier wird Halil Rifat Pascha, der seit 1882 in Sivas als Gouverneur gewirkt hat, für seine besonderen Dienste im Straßenbau gedankt. „SIE HABEN ES GESCHAFFT, SIVAS MIT DEN VIER ECKEN DES LANDES ZU VERBINDEN.“ Das folgende Zitat über ihn ist in die Geschichte eingegangen: „Gidemediğin yer senin değildir“ (Einen Ort, an den er nicht gehen kann, gibt es nicht). Er ist der einzige unter Hunderten von Gouverneuren im 19. Jahrhundert, der sich vor allem im Straßenbau einen Namen gemacht hat. Auch ich bin ihm nachträglich dankbar für diesen Weg.

Heute soll es einen starken Gewittersturm geben. Ich komme gut voran, mein ungefähres Ziel von heute Morgen wird konkret: kurz hinter Suşehri liegt ein Stausee. Ich hoffe dort einen Unterschlupf zu finden, der mir mehr Schutz bietet als mein Zelt. Wenn nicht, wird es zumindest für morgen früh ein schöner Ort zum Baden sein, denke ich mir. Und wie so oft auf dieser Reise werde ich unverhofft beschenkt: Hier gibt es wirklich eine verlassene Gastronomie mit einem großen überdachten Saal, der zwar verfallen ist, aber genügend wind- und regengeschützte Stellen bietet. 7 km nahe der Stadt gelegen, bin ich hier nicht alleine: in zwei Grüppchen wird gefeiert. Nach meiner Ankunft während der ersten heftigen Windböen setze ich mich zu Jakub und Yasmin, die hier ihre nicht ganz öffentliche Beziehung leben (beide sind verheiratet). Sie sind fertig mit Grillen, wir teilen Obst und Nüsse und bestaunen gemeinsam den Sturm, der mehr und mehr an Fahrt aufnimmt, so dass wir aufpassen müssen, dass unsere Sachen nicht über das Steilufer geweht werden. Als es dann noch beginnt zu regnen und kurz darauf zu schütten, fahren sie ab. Ich bringe meine Sachen ins Innere des Saals und schaue dann zur anderen Gruppe. Hier sitzen zwei junge Pärchen unter einer aufgespannten Plane. Es wurde noch ein langer, lustiger Abend mit Rakı (Aslan sütü = Löwenmilch), Midye Dolma (reisgefüllten Muscheln) und türkischer Musik. Eine der jungen Frauen trug die Haare offen, die andere ein strenges Kopftuch. Alle tranken Alkohol und spät nachts machten wir uns auf zu der nahegelegenen heißen Quelle, in die wir in Unterwäsche stiegen. Die Dunkelheit und der heiße Nebel gab den Pärchen Gelegenheit zu Hautkontakt. Die türkischen Moralvorstellungen gehören auch zu den Dingen, die sich mir noch nicht erschlossen haben…

Morgens scheint wieder die Sonne, ich genieße noch einmal das heiße Bad, danach ein ausgiebiges Frühstück und fahre spät am Vormittag weiter.

Inzwischen ist es stabil sommerlich warm, die Temperatur tagsüber meist um die 30°, auch nachts und in der Höhe wird es nicht wirklich kalt. Ich genieße es entlang von Bächen durch grüne Täler und Schluchten zu fahren. Die Straße ist glatt, es fahren sehr wenige Autos. Die Dörfer liegen meist einige Kilometer von ihr entfernt in kleinen Tälern, doch ab und zu gibt es an der Straße ein kleinen Kiosk, eine Bäckerei und eine Teestube. An einer von ihnen halte ich an und gönne mir einen Gözleme, einen türkischen Crêpe. Inzwischen habe ich mir auch angewöhnt, meine Thermosflasche mit heißem Wasser auffüllen zu lassen. Teebeutel habe ich noch bei mir. Das zusammen ergibt eine willkommene Abwechslung zu dem Wasser, das ich sonst den ganzen Tag trinke. Ich genieße es, dass ich entspannt und langsam die Höhenmeter erklimme. Durch den guten Straßenbelag kann ich meinen Blick bedenkenlos schweifen lassen. Hier gibt es inzwischen Nadelbäume, manche Hügelflächen sind vom Gras bedeckt, dazwischen gibt es blanke Felswände.

Habe ich nicht gerade noch von der wunderbaren Asphaltstraße geschwärmt? Ich verpasse meinen Abzweig, so unscheinbar sieht er aus. Doch merke ich es schnell und muss nur einige 100 m zurück bergauf fahren. Dort bin ich auf einer gewohnten Dorfstraße angelangt: einer Mischung aus Schotter und Asphaltresten. Ich befrage meine KartenApp und sehe, das dies für 30 km so bleiben wird. Alternativen gibt es keine, wenn man einmal in eine Schlucht hinein gefahren ist. Das ist kein Genuss, schon gar nicht, wenn es bergauf geht. Doch ich habe Zeit, genug zu essen und bin fit – kein Grund die gute Laune zu verlieren! In einer kleinen Ansiedlung führt eine breite Brücke über den Fluss. Darauf stehen Tische, ein großes Schild heißt mich herzlich willkommen. Über dem Wasser hängen zwei große Flaggen mit der Wahlwerbung von Erdoğan. Als ich noch schaue und überlege werde ich auch schon gerufen: Madam, gel! (=komm!). Inzwischen halte ich fast immer an, wenn ich gerufen werde. Die Gespräche mit den Menschen hier sind freundlich und tun gut. Außerdem gibt es meistens Tee und ihr wisst ja, wie wichtig trinken ist.

Schnell werden vier Tees geholt und ein Teller mit Waffeln auf den Tisch gestellt. Ali Bey ist entweder der Patron (Chef) oder der Bürgermeister. Er fragt, ob er ein Foto von mir von uns für das Café machen darf. Natürlich! Ich hoffe, dass er es schafft, es mir zu zu schicken (Nein, hat er bis heute nicht). Mit den beiden jüngeren diskutiere ich meinen Plan für den weiteren Weg. Sie erzählen mir, dass es im letzten Dorf vor dem Pass ein Misafir Hane zum Übernachten gäbe. Außerdem sagen sie, dass die Straße gut sei. Ersteres beruhigt mich, zweites kann ich nicht so recht glauben, sehe ich skeptisch.

Einen Kilometer später weiß ich, was sie gemeint haben, denn ich gelange wieder auf eine größere Straße mit geschlossener Asphaltdecke, stetig steigend aber gut machbar. Das Pontische Gebirge grenzt hier Nordanatolien von der Schwarzmeerküste ab, da muss ich nun einmal rüber. Nachmittags zieht es sich wieder zu, meine WetterApp zeigt starken Regen an. Noch 3 km und 300 Höhenmeter bis zum Pass, dass ist zu schaffen!

Es fängt an zu nieseln. Hinter dem Berg wird es bedrohlich dunkel. Ein Pritschen-LKW fährt erst vorbei. Stoppt dann und lässt sich zurückrollen. Als ich sie eingeholt habe, bieten mir die Insassen an, mich mitzunehmen. Wir diskutieren ein wenig über die Strecke. Als ich sage, dass ich nur noch kurz weiter und zum Dorf am Pass möchte, fahren Sie ohne mich weiter. Kurz danach öffnet der Himmel seine Schleusen. Eine Metapher, die hier wirklich passt: es hagelt, blitzt und donnert, die Straße verwandelt sich in einen Bach, dann in ein fließendes Schneefeld. Das ganze ging so schnell, dass ich noch nicht mal meine Jacke angezogen hatte. Nun ist es dafür zu spät, die Hagelkörner prasseln schmerzhaft auf meine nackten Arme und Beine. Ich erwarte hinter der nächsten Biegung das Dorf und schlängele mich in Serpentinen auf der Straße hinauf. Wie gut, dass es hier Asphalt ist, auf einer Schotterstraße wäre ein Fahren nicht mehr möglich gewesen. Ich bin inzwischen in den Wolken und kann kaum weiter als einige Meter sehen. Ich überlege noch die Jacke anzuziehen, überlege ein Foto zu machen. Doch ich will einfach nur noch ankommen und einen Unterschlupf finden. Nach vielleicht 10 Minuten erreiche ich den Pass, dort steht ein Schild und ein Auto. Erst dachte ich, es sei eventuell der LKW, der auf mich wartet, aber es sind andere Menschen. Vorsichtig öffnen sie ihr Fenster um einige Zentimeter. Als ich nach dem Mescit (Gebetsraum) frage, nicken sie und zeigen ein wenig weiter: dort rechts! Dann sehe ich auch schon das Minarett, es ist eine richtige Moschee mit Tor und Zaun. Ich drehe an dem Knauf, schiebe das Fahrrad über den Zuweg und will gerade die Tür zur Moschee öffnen, da ruft es aus dem Haus am Zaun. Soldaten kommen aus der Tür. Als ich fragend auf die Moschee deute, winken sie mich zu sich. Ich stelle mein Rad unter das Vordach, schlängele mich an den fünf großen Hunden vorbei und stehe dann in einem trockenen, warmen Raum mit Ofen. Hier werde ich mich nicht mehr vertreiben lassen! Ich gehe noch einmal schnell hinaus, um meine Tasche mit den Wechselsachen zu holen. Die Soldaten zeigen mir ein Schlafzimmer zum Umziehen, was tut das gut! Während ich noch meine tropfnasse Fahrradkleidung auswringe und an den Ofen hänge, wurde der Abendbrottisch gedeckt: Rührei, Brot, Honig, Käse und heißer Kaffee – ein Traum! Ich steuere mein Gemüse bei und wärme mich am Tee und Ofen. Inzwschen haben die fünf mich aufgeklärt, dass sie keine Soldaten, sondern eine Spezialeinheit der Polizei sind (SWAT), die hier wegen der PKK-Kämpfer stationiert ist. Der jüngste (26) will unbedingt nach Deutschland zum Heiraten. Ich erkläre scherzhaft, dass er anfangen soll, Englisch und Deutsch zu lernen. Außerdem müsse er aufhören zu rauchen, das käme in Deutschland nicht gut an. Doch weiß ich, dass hinter den ganzen Fragen Ernst und eine große Perspektivlosigkeit steckt. Wie schon bei Mohammed aus dem Iran fühle ich mich hilflos. Ich weiß gar nicht genau Bescheid, wie es legale Wege nach Deutschland gibt. Das einzige, was ich immer gut sagen kann, ist dass es wichtig ist, Arbeit zu haben. Und auch wenn Irfan und sein Bruder rückblickend meinen, es wäre wahrscheinlich besser gewesen, wenn ihr Vater in der Türkei geblieben wäre, geben auch sie zu, dass es ohne ihren Landbesitz schwierig gewesen wäre, in der Türkei gut aufzuwachsen.

Nach einer Weile fragt einer der Uniformierten, ob ich heute Abend noch weiter fahren möchte. Ich kann diese Frage nicht so richtig einordnen (es ist inzwischen dunkel und regnet immer noch) und sage: Nein, ich hätte ein Zelt dabei. Vorsichtig frage ich: „oder ist es möglich, in der Moschee zu übernachten?“ Na klar, das ginge auf jeden Fall! Nicht im Vorraum, nein! Sie weisen mir den Gebetsraum zu. Während ich noch überlege, ob ich auf dem weichen Teppich meine Luftmatratze benötige, tragen sie mir schon eine Matratze hinein. Sie selber schlafen auf der Empore, bis auf die beiden, die Wache halten und Patrouille gehen. Ich brauche inzwischen schon lange keinen Wecker mehr, wache um sechs Uhr auf, packe meine Sachen, bekomme noch einen auf dem Ofen gegrillten Toast zum Frühstück im Wachhaus und fahren dann weiter. Heute geht es ans Meer!

Inzwischen hat sich die Landschaft verändert. Statt brauner Hügel gibt es nun saftige, grüne Wiesen und viel mehr Bäume. In den Talmulden stehen oft viele Bienenstücke beisammen. Nach Süden, zum Anatolischen Hochland hin, fehlte wegen der geringen Niederschläge der Waldbestand. Hier wies die äußerst dünn besiedelte Landschaft weitgehend montanen Steppencharakter auf. Die steile Nordseite der pontischen Bergkette ist aufgrund der häufigen Niederschläge (Steigungsregen) dicht bewaldet und zum Teil gutes Agrarland. Hier werden Haselnüsse, Tee, Tabak und Oliven kultiviert. In den östlichen Niederungsgebieten liegen die Zentren des türkischen Reisanbaus. Die höheren Regionen werden auch als Weide- und Almgebiet genutzt. Wegen der dünnen Besiedlung sind Flora und Fauna auf beiden Seiten noch sehr artenreich.

Die Straße auf der anderen Seite ist leider in einem nicht ganz so guten Zustand. Vielleicht, weil hier keine Soldaten fahren müssen? Bergab ist es nicht ganz so schlimm, so fahre ich halt langsam und habe mehr Zeit die Ausblicke zu genießen. Es kommen die ersten kleinen Dörfer, Kinder winken mir vom Fußballplatz zu. Ich folge einem Bach und sehe die ersten Ausflugslokale. Im ersten größeren Dorf herrscht reges Treiben. Ich werde zu dem Teehaus gewunken, begeistert wird meine Geschichte jedem neuen Gast weiter erzählt. Ich muss schmunzeln und freue mich doch sehr über die netten Gespräche. Nach dem dritten Tee werde ich einige Läden weiter geführt und bekomme dort noch ein Essen. Langsam wird es mir unangenehm, schließlich weiß ich, dass die Leute hier nicht gerade wohlhabend sind. Doch man kann sich nur schwer wehren und so freue ich mich, tausche Telefonnummern aus, mache Andenkenfotos und mich danach auf für den zweiten Teil der Abfahrt.

Nun kann ich mich auf Asphalt rollen lassen und werde dennoch nicht schneller. Immer wieder halte ich für Fotos und um den Anblick in mich aufzusaugen. Wie im Regenwald steigen dichte Nebel aus den Wäldern auf. Die Luft um mich herum ist voller Wasser, es kondensiert auf meinem Fahrrad, auf meiner Haut. Es wird langsam dämmerig, die ersten Industriegebiete künden die nahende Küste an. Ein Auto überholt mich und stoppt. Es sind Gäste aus dem Teehaus im Dorf, sie laden mich zum Übernachten ein. Ihre Tochter wäre einmal als Schulaustausch in Deutschland gewesen, sie lächelt schüchtern vom Rücksitz. Ich vertrage heute nicht mehr viele Menschen und lehne höflich ab. Es fällt mir schwer, doch ich glaube, ich könnte heute kein guter Gast mehr sein. Morgen werde ich die Eltern von Handan besuchen und dann liegen nur noch wenige hundert Kilometer zwischen mir und Batumi, wo ich meine Eltern treffen werde.

5 Kommentare

  • Richard

    Hallo Anke,
    ich habe deinen Bericht in einem Rutsch durchgelesen un bin beeindruckt von Deinen Erlebnissen.
    Ich stelle es mir schwer vor, in einem fremden Land alle diese vielen Einladungen, die Du bekommen hast, zu bewerten und entweder anzunehmen oder abzulehnen.
    Weiterhin alles Gute für Deine Reise und weiter so.
    Viele liebe Grüße
    Richard

  • Birgit Kreimer

    Liebe Anke,
    vielen Dank für deine tollen Berichte und manchmal fühlt es sich an als sei man selbst dabei. Ich wünsche dir weiterhin eine tolle Tour und nette, spannende Begegnungen.

  • Irene de Vries

    Liebe Anke,

    ich finde Ihren Bericht und die Bilder der wunderschönen Landschaft großartig !
    Sehr bewegend, so viele gute und hilfsbereite Menschen unterwegs zu treffen.
    Weiterhin viel Glück bei diesem ungewöhnlichen Abenteuer!

    Irene de Vries
    aus Norden.

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