gen Osten,  Türkei

Türkei – Schwarzes Meer

14.-20.6.2023

Und dann bin ich unten angelangt. Ich rieche das Meer, aber vor allem Autos, Menschen, Stadt. Die Natur ist hier nicht mehr im Mittelpunkt, sondern die „Zivilisation“. Ich bin so froh, dass ich mich für meine Strecke durch die Berge entschieden habe. Auch wenn andere Radreisen sagen, dass die Hauptstraße gut zu fahren gewesen ist, waren meine Erlebnisse sehr eindrücklich. Die vielen Begegnungen, die Übernachtung bei der Familie, die vielen Tiere, der Kaffee auf dem Pass beim Schäfer, die Bergdörfer, die Landschaft. Nichts davon möchte ich missen! Gut war auch herauszufinden, dass die Höhenmeter für mich gut zu schaffen sind. Zumindest wenn die Steigung nicht zu groß wird, ist alles nur eine Frage der Zeit. Der Himmel zieht sich wieder zu. Ich hoffe, für heute Abend einen regensicheren Platz zu finden.

Im Nord-Osten der Türkei gibt es nur einen schmalen Küstenstreifen. Sehr dicht steigt das Gelände an, meist recht steil. Zwischen Meer und Gebirge verlaufen auf den wenigen Metern mehrere Straßen, darunter eine Autobahn und befinden sich Dörfer, Städte, ganze Metropolen. Das macht es nicht leicht gute Schlafplätze zu finden. In der ersten Nacht regnet es, ich spanne meine Hängematte unter dem Vordach von einer verlassenen Strandbude auf. Früh morgens kommt der junge Besitzer auf dem Weg vom Club nach Hause hier vorbei und versucht mich etwas angetrunken in ein Gespräch zu verwickeln. Irgendwann geht er ins Bett und ich stehe auf, schwimme in Meer und packe meine Sachen.

Wie schon geschrieben hatte ich außer Istanbul und Kappadokien wenig feste Ziele in der Türkei, die Strecke ergab sich beim Fahren. Schon früh verabredet war aber der Besuch bei den Eltern von Handan. Sie leben in Beşikdüzü, einer mittelgroßen Stadt zwischen Tirebolu und Trabzon, somit war klar, wo ich an das Schwarze Meer kommen wollte. Bei Esma und Mehmet Ali verbringe ich zwei unvergessliche Tage. Nicht nur, dass sie mich von hinten bis vorne kulinarisch verwöhnen, sie nehmen mich auch mit in ihr Dorf oben in den Bergen, in dem sie beide als Kinder aufgewachsen sind und helfen mir einen Schuster zu finden, der eine Öse an meinem Schuh sehr schnell und günstig näht. Darüber hinaus erzählen sie bereitwillig von ihren Erfahrungen als sogenannte Gastarbeiter in Deutschland, Mehmet Ali kam 1973 nach Lübeck, Esme folgte mit den drei Kindern einige Jahre später nach. Ein viertes Kind kam in Deutschland zur Welt. Nach elf Jahren in der Industrie arbeitete Mehmet Ali weitere 13 Jahre als Taxifahrer. Esme arbeitete hauptsächlich bei Kühne in der Fabrik. Alle vier Kinder und sieben Enkel leben in Deutschland, sie selber sind nun schon viele Jahre zurück in der Türkei. Nur schwer kann ich mich am Mittag des dritten Tages trennen.

Bis zum Treffen in Batumi habe ich noch Zeit, fast zu viel. Ich überlege, ob ich noch einen Schlenker durch das Hinterland vor oder nach der Grenze machen soll. Doch dann denke ich mir, dass ich es auch ruhig angehen lassen kann und mir einige Zeit am Tag für meine Berichte nehmen möchte. Dazu bin ich in den letzten Wochen kaum gekommen. Langsam gewöhne ich mich an die Autostraße, der breite Seitenstreifen fährt sich gut, schön wird es jedoch nie. Alleine die Umgehungsstrecken der Tunnel zeigen, wie schön es hier sein könnte. Rechts von mir erheben sich weiterhin hohe Berge, an den Hängen einzelne Häuser zwischen vielen Bäume, dazwischen TeePlantagen und Haselnüsse. Es heißt, dass es hier an der Küste sehr viel regnet. Darum sind die Berge auch so grün! Direkt am Meer habe ich jedoch Glück und fahre meistens im Trockenen. Ein frischer Wind kühlt mich ab.

Trabzon ist die östlichste große Hafenstadt am Schwarzen Meer. Insgesamt leben in der Großstadtkommune 800.000 Einwohner:innen, im Stadtzentrum ca. 330.000. Die Stadt ist Umschlagplatz für den Export von im Umland angebauten Haselnüssen, Tee und Tabak. Aus der Zeit vor der griechischen Besiedelung im 8./7. vorchristlichen Jahrhundert ist über Trabzon so gut wie nichts bekannt. Kein Wunder, vom Binnenland ist die Küste hier durch das küstenparallel verlaufende Gebirge abgeriegelt und nur über den über 2000 m hohen Zigana-Pass erreichbar. Später jedoch war die Stadt unter häufig wechselnder Herrschaft ein wichtiges Handelszentrum. In Trabzon schaffe ich es mir ganz selbstständig auf Türkisch ein Waxing zu organisieren und mich mit den freundlichen Frauen in Salon zu unterhalten. Langsam werde ich alltagstauglich in der Sprache! Für die Nacht danach suche ich mir in der Nähe der Stadt ein Stück Strand heraus. Als ich dort ankomme, bemerke ich, dass dies auch schon andere getan habe. Ich werde zum Picknick eingeladen, bekomme türkische Meze samt Rakı und teile meine Melone. Später am Abend kommen weitere Freunde. Ich bin eigentlich schon dabei, meine Luftmatratze aufzublasen, meinen Schlafsack auszuräumen. Doch dann lasse ich mich überreden, mir einen viel besseren Platz zeigen zu lassen, „hier sei es doch viel zu dreckig!“. Ich hatte mir vorgenommen, der Meinung anderer Menschen mehr zu vertrauen. Also gebe einem der Freunde meinen Campingstuhl, einem meine Matratze, der Rest ist schnell in den Radtaschen verstaut, und folge ihnen Richtung Park und Hafen. Als sie aber sehr angetrunken versuchen wollen mein Fahrrad zu fahren, schreite ich dann doch ein. Der Platz, den sie mir zeigen, ist sauberer, das gebe ich zu. Doch dafür liegt er direkt an der Straße, nicht mehr am Strand und später bemerke ich, dass meine Matratze langsam Luft verliert. Sie muss beim Transport ein kleines Loch bekommen haben.

Meine gute Laune schwindet, ich spüre eine Mischung aus Ärger und Traurigkeit. Hier im Licht des Parks zu liegen und morgen früh nicht im Meer baden zu können, gefällt mir gar nicht. Doch schnell wird mir klar, dass eigentlich nichts Schlimmes passiert ist. Ich habe nun zwei Bäume für meine Hängematte, statt auf dem Sandboden zu schlafen, weder mir noch meinem Fahrrad ist etwas passiert, die Matratze lässt sich kleben und ich konnte auf dem Weg zwei Zelte mit je einem Tandem sehen und nehme mir vor, am nächsten Morgen nach ihnen zu schauen. Wer weiß wofür es gut war. Zumindest habe ich eine Erfahrung gemacht.

Bevor ich jedoch morgens fertig mit Packen bin, kommen die vier schon bei mir vorbei. Auf beiden Tandems sitzt vorne ein Pilot (Can und Deniz) und hinten eine blinde Person (Merve und Fatih). Sie machen mit ihrem Fahrradclub İşpedal viele Touren. Dass blinde Menschen mit Sehenden auf dem Tandem fahren, kannte ich schon aus Deutschland. Doch dabei zu zelten erschien mir als weitaus größere Herausforderung. Alleine wo man nachts zum Pinkeln hingehen kann… Sie sind mit dem Bus aus Izmir angereist und fahre nun von Trabzon nach Batumi. Wir tauschen Nummern aus und verabreden uns für später. Sie möchten erst einmal in die Stadt zum Frühstücken und in eine Fahrradwerkstatt. Nachmittags treffen wir uns in einem Café und fahren den restlichen Tag gemeinsam. Später verbringen wir eine sehr lustige Nacht gemeinsam an einer idyllischen Sandbucht. Ich bewundere es, wie gut die vier eingespielt sind. Am nächsten Tag fahren wir gemeinsam nach Rize, trinken dort im Zentrum einen berühmten Rize-Chai (ich finde er schmeckt nicht anders als alle Tees zuvor). Nachdem sie mir noch geholfen haben einen Schneider zum Nähen meiner Tasche zu finden, trennen sich unsere Wege. Rize ist wie Trabzon sehr groß und reich an Sehenswürdigkeiten und schönen Ecken. Mich zieht es jedoch weiter: in die Natur, nach Georgien!

Die vier hatten ein ganz schönes Tempo drauf und ich dankbar ihren Windschatten genutzt. Eine längere Strecke mit 30 km/h habe ich alleine noch nicht erlebt. Nun sinkt meine Motivation wieder so kräftig in die Pedalen zu treten und ich fahre deutlich gemütlicher. Die vielen Kilometer, die ich am Tag zurücklege, entstehen definitiv nicht durch mein Tempo, sondern eher durch lange Fahrzeiten, so viele Tee- und Kaffeepausen hatte ich zuvor auch noch nicht ☕😊

Zufrieden, glücklich, voller Frieden rolle ich die Straße nach Osten. Nun weiß ich, warum ich in Trabzon nachts umgezogen bin und warum ich mir so entspannte Tage bis Batumi gegönnt habe: um genau solche Menschen zu treffen und um für solche Begegnungen Zeit zu haben! Ich liebe es so zu reisen, Personen und Situationen, Zeit und Raum geben zu können.

Doch ich sollte nicht lange alleine bleiben. Nach einer stürmischen, nassen Nacht, die ich unter einem der vielen Picknick-Pavillons der Türkei verbrachte (was werde ich sie vermissen!), gab es eine Tee-Einladung vom Parkwächter. Und schon auf der Autobahn-Strecke danach holte mich Steve ein, als ich meine Wasserflaschen an einer Quelle auffüllte. Er nutzt seine frühe Pensionierung um sich seinen Traum zu erfüllen: eine Radtour aus seiner Heimat (England) in die seiner Eltern (China). Unterwegs ist er mit seinem Brompton-Faltrad, ein ungewohnter Anblick. (Leider sollte sich kurz nach unserem Treffen herausstellen, dass die kleinen Räder doch sehr belastet werden durch das Gepäck. Steve hatte einen ungeplant langen Badeaufenthalt in Batumi bis die Ersatzteile geliefert wurden.) Wir können auf dem breiten Seitenstreifen nebeneinander fahren und uns in Ruhe unterhalten. Abends regnet es wieder. Wir klappen einige Buchten ab. Sogar einen Campingplatz gibt es hier, doch er bietet eigentlich gar nichts und will dafür recht viel Geld haben. Kurz danach frage ich in einem Café/Bar, ob wir auf der Außen-Terrasse schlafen könnten. Kein Problem! Abends bei Regen will dort eh keiner sitzen. Was für ein Geschenk – ein weiterer Schlafplatz in meiner Top 10! Über den Strand ragend verbringen wir hier eine gemütliche Nacht, die steile Holztreppe ermöglicht den Weg zum Bad am Abend und am Morgen. Und dann geht es auch schon der Grenze entgegen. Wir stoppen am Supermarkt um die letzten Lira auszugeben, LKW stehen Schlange, für uns Radfahrer geht es ganz schnell. Die erste Grenze ohne Länderschild danach, für das Foto müssen die Flaggen und das Ortsschild herhalten. Als wir danach an einer Burg für ein Foto halten, stehen auf einmal Sonja und Joni mit ihrem Camperbus auf dem Parkplatz. Anfang Mai hatte ich sie auf dem Rainbow Gathering in der WestTürkei kennen gelernt. Die Überraschung und Freude sind groß! Wir tauschen uns über die letzten sechs Wochen aus und nehmen uns fest vor, uns in Georgien länger zu treffen. Nun aber los nach Batumi! Ich bekomme die Nachricht, dass meine Eltern früher als erwartet angekommen sind und mich im Hotel erwarten. Auf der Strecke treffen wir erst Mathieu, danach verliere ich die beiden auf der Strandpromenade. Doch mein Handy führt mich sicher und direkt zum Hotel London, vor dem ich schon auf dem Gehweg erwartet werde!

5 Kommentare

  • Margrit Timmann

    Guten Morgen liebe Anke, dein Bericht heute, Türkei-Georgien hat für mich Erinnerungen an unser Treffen in Batumi. Durch deine Erzählungen und unsere Kaffeepause mit den 4 türkischen Tandemfahrern und Steve, kamen mir liebe Gedanken an unsere gemeinsamen Ferientage in Georgien…du hast mir eine feine Lesezeit und Fotosschau geschenkt, danke von Mama daheim

  • Frances

    Liebe Anke,

    Deine Erzählung über die Begegnungen und die Gedanken in der Türkei haben mich immer sehr berührt. Auch die Fotos sind sehr beeindruckend. Nun eine schöne Reise weiter nach Georgien und viel Vorfreude auf ein Wiedersehen mit Deinen Eltern!

    Frances

  • Ulla

    Hallo KaHo,

    ich habe mir gerade wieder die Zeit für Deinen Bericht gegönnt. Vielen Dank für die Beschreibungen. Oft weiss man/frau nicht, warum was zu welcher Zeit zu tun ist. Aber meistens hat es einen Sinn, früher oder später zu fahren… wie z.B. Dein Umzug in die ’sauberere‘ Umgebung. Ich finde dabei, für mich als Lesende, auch immer wieder die Anregung, den Moment ‚wahr zu nehmen‘ und die daraus resultierenden Entscheidungen/Ergebnisse zu schätzen.
    Weiterhin interessante Begegnungen und Gute Fahrt.

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