gen Osten,  Türkei

Türkei – wieder zurück zur Grenze

17. – 21.7.23

Den Vormittag verbringe ich mit der Erkundung der Gegend. Hier gibt es den fast 400 Jahre alten Palast, noch viel ältere Burgruinen, Grabstätten aus dem 8. Jhd v.Chr. und einen großen Picknickbereich. Schon morgens herrscht hier großer Trubel, LKW-weise werden Familien angekarrt, mit ihnen große Töpfe, Decken, Stühle, Gaskocher und was man sonst so für ein türkisches Picknick braucht. Das Fleisch zum Grillen wird direkt vor Ort geschlachtet. „Halal“, was bedeutet, dass die Tiere aufgehängt werden und nach dem Schnitt durch die Kehle ausbluten. Ich trinke zwei Becher Tee im Café, dann wird der Palast geöffnet, er ist die Hauptattraktion dieses Bereichs. Frisch saniert, das letzte Mal 2009, kann man in seinen rötlich Mauern ahnen, wie das Leben damals auf 7600qm in 366 Zimmern auf zwei Etagen stattgefunden haben könnte. Ein Mitglied der ab der zweiten Hälfte des 17.Jhd herrschenden kurdischen Familiendynastie Çıldıroğulları hieß İshak Paşa. 1723 wurde er Wesir und im folgenden Jahr zum Statthalter (Pascha) ernannt. Ein anderer İshak, der 1790–1791 Pascha von Çıldır war, ließ den Palast vollenden. Die einzige inschriftliche Datierung des Palastes nennt als Fertigstellungsjahr 1199 AH, entsprechend 1784 n. Chr. Im russisch-osmanischem Krieg (1828) wurde ein großer Teil der Holzkonstruktion zerstört. 1840 richtete ein Erdbeben schwere Schäden am Palast und an der Festung an, die aber schon damals behoben wurden.
Der Ararat ist von hier nicht zu sehen. Dies verwundert mich anfangs. Später, als ich die Palastanlage aus der Ferne betrachten kann, sehe ich, dass der Felsgrat, der die Burg abschirmt, vielleicht als Schutz vor dem Vulkan gedacht gewesen sein könnte. Als ich mich schon zufrieden ins Tal rollen lassen wollte, entdecke ich, dass ein Gebäude links am Hang, dass ich auf dem Hinweg für ein Hotel gehalten habe, ein Museum ist. Alles mitnehmen! Ich halte an und steige die vielen Stufen hinauf. Dies bereue ich nicht: Es ist ein wirklich liebevoll eingerichtetes altes Haus, in dem einem das historische Leben dieser Gegend mit lebensgroßen Figuren nachgebracht wird. Viele Kinder laufen herum. Dass die Beschriftung nur in Türkisch vorhanden ist, stört nicht wirklich. Das zweite Museumsgebäude ist geschlossen, ich frage nach, doch verstehe die Begründung nicht. Als ich auf die hintere Terrasse gehe und noch ein Foto von der Aussicht über das weite Tal mit der Stadt Doğubeyazıt machen möchte, wird mir auf einmal ein Tee gebracht. Überrascht schaue ich mich um und sehe den Pausenraum des Personals. Ich setze mich zu ihnen und bekomme erklärt, dass in dem zweiten Gebäude Filmaufnahmen stattfinden. Erst in 2 Stunden wären diese vorbei. Das ist mir zu spät, maalesef (leider)! Da bietet mir ein Ticketverkäufer an, mich alleine schnell hinein zu lassen. Er vergewissert sich, dass mein Handy lautlos gestellt ist. Dann schleichen wir auf Zehenspitzen heran. Es scheint eine Art Dokumentation gedreht zu werden. Der Aufbau mit Kamera, Regie, Backstage, Monitoren und vielen, vielen Kabeln ist beeindruckend. Dieser Bereich des Museums ist kleiner, so dass ich schnell mit dem Ticketverkäufer wieder hinausgehen kann. Dies ist wieder eines der vielen Erlebnisse, bei dem ich mir sicher bin, dass sie mir nicht passiert wären, wenn ich nicht alleine unterwegs wäre und gar kein Türkisch sprechen würde. Welch ein Geschenk!

Dann fahre ich aber wirklich los: Wasser auffüllen, schnell beim Turkcell-Shop noch einmal Nachrichten abrufen und dann geht es zurück Richtung Georgien! Es ist schön wieder Fahrrad zu fahren, einfach zu kurbeln. Die steppen- bis wüstenartige Landschaft zu genießen, meine Gedanken treiben zu lassen. Nach 10 km leichtem Anstieg kommt sie, die große Kante im Plateau, 600 Höhenmeter abwärts! Ab und zu bremse ich für eine Videoaufnahme oder ein Foto, doch meist lasse ich mein Rad rollen und die Endorphine sprudeln. Unten angekommen halte ich an einer Tankstelle, kaufe mir ein Eis und nutze das WLAN, da ich dringend auf die Antwort der Botschaft warte und gegebenenfalls schnell reagieren möchte. Doch leider ist immer noch keine Mail angekommen. Ich fahre weiter, um noch vor der Dunkelheit einen Platz zum Schlafen zu finden. Am Stadtrand habe ich einen See auf der Karte entdeckt, dessen Satellitenbild einen Baggersee erahnen lässt, ansonsten werde ich mir einige Bäume suchen, die gibt es hier im Stadtgebiet wieder. Als ich mich dem Gebiet nähere, bemerke ich erstaunt, dass der Baggersee inzwischen ein sehr moderner, sehr beliebter, sehr großer, sehr grüner Park geworden ist. Zäune auf allen Seiten, aber innen drin viel Wasser. Ich umrunde ihn und entdecke nach dem ersten geschlossenen Tor ein geöffnetes. Die Kinder, die am Eingang Wasser verkaufen, erklären, dass der Park um 11 Uhr nachts schließt. Ich schaue mich kurz drinnen um, die Seen mit Springbrunnen und Fontänen scheinen eher zur Dekoration als zum Baden zu dienen. Ich frage einen Gärtner, ob man hier übernachten kann, er verneint bestimmt. Ich will es nicht riskieren, um 11 Uhr heraus geschmissen zu werden und suche mir ein kleines Wäldchen in der Nähe. Hier schlafe ich ruhig in meiner Hängematte und werde morgens von einem Huhn mit 16-17 Küken geweckt – was ist das Leben schön!

Das Fahrradfahren macht hier Spaß, auf einer breiten, frisch asphaltierten Straße gibt mir ein 2m breiter Standstreifen genügend Platz. Wenn alle 10 Minuten mal ein Auto vorbei kommt, weicht es auf die linke der beiden Spuren aus, so dass es trotz der Hauptstraße ein sehr sicheres und gemütliches Fahren ist. Ab und zu stehen Obstbäume am Straßenrand. Endlich habe ich es: das Obst, das mir direkt in den Mund wächst! Aprikosen, Pflaumen, Äpfel, Maulbeeren. An und unter diesen Bäumen findet man sogar getrocknete Früchte, die ich extra sammele. Immer wieder freundliche Begegnungen, gemeinsames Teetrinken und dann wieder fahren – Höchsttemperatur heute 47° 😄

In Tuzluca soll es eine riesige Salzhöhle geben, wurde mir auf der Hinfahrt erzählt. Nun habe ich genügend Zeit, sie mir anzuschauen. Schilder dorthin finde ich zwar nicht, doch auf meiner Karte ist ein Salztherapiezentrum eingezeichnet. Dort werde ich es mal versuchen. Auf dem Weg hält ein Auto: es ist der Bürgermeister mit seinem Fahrer, er spricht mich an, fragt, ob es mir gut geht und lädt mich zum Essen ein. Ich verspreche nach dem Besuch der Höhle bei ihm vorbei zu kommen. Bei der letzten Abzweigung steht dann wirklich ein Schild. Ich versuche beim Eingang zu erfahren, ob es irgendwelche Verhaltensweisen gibt, die ich zu beachten hätte. Von der Antwort verstehe ich nur „iki saat“. Ob das 2 Stunden oder 2 Uhr bedeutet, kann ich leider immer noch nicht gut auseinander halten. Egal, ich bezahle meine 30 Lira Eintritt und mache mich auf den Weg.

Anfangs erwartet mich ein bunt beleuchteter Gang, der in die Tiefe des Berges führt. Ich folge ihm für ca. 100 Meter, biege um eine Ecke und dann – fällt mit die Kinnlade hinunter und es verschlägt mir den Atem, diese Redewendungen passen hier wirklich: ein riesiges Gewölbe öffnet sich, größer als alle Kathedralen der Welt zusammen, die ich je gesehen habe. Picknicktische stehen in großen Nebenhöhlen, Familien sitzen hier, essen und trinken, klassische Musik wird gespielt. Dass es kalt ist, wusste ich und habe meine Jacke mitgebracht, viele Kinder laufen jedoch im Jacket ihres Vaters herum. Ich versuche die Höhle in ihrer Gänze zu erforschen. In einer Ecke reicht man über eine Treppe in einen weiteren Saal mit Sitzbänken aus Stein. Vielleicht gibt es hier Aufführungen? Um diese Uhrzeit jedoch ist die Bühne nur der Platz für unzählige Fotoaufnahmen über dem Salzsee. Ich verliere mich völlig in Raum und Zeit, es ist wie in einer Parallelwelt hier. In der ganzen Anlage gibt es kein Schild, keine Erläuterung, keinen Flyer. Später finde ich neben dem Ticketschalter einen kleinen Shop, in dem man Salz und die üblichen Kühlschrankmagnete kaufen kann. Ich erfahre, dass hier lange Zeit Salz abgebaut wurde, inzwischen sich aber ein neues Abbaugebiet am anderen Ende der Stadt befindet.

Wieder am Tageslicht will ich mich aufmachen, den Bürgermeister zu besuchen. Ich hatte ihn mehrfach gefragt, wie ich ihn finden kann, doch die Antwort ist nach dem Erlebnis der Höhle längst vergessen. Da die Stadt nicht allzu groß ist (10.000 Einwohner), werde ich das Rathaus schon finden können, denke ich mir. Ich fahre einmal durch das Zentrum die Hauptstraße entlang, finde aber nichts. Was heißt Bürgermeister auf türkisch? Ich weiß es nicht und kann ohne Internet auch schlecht nachschauen. “Şehir-Patron-Ev nerede?” (Wo ist das Stadt-Chef-Haus?) muss reichen. Und siehe da: ich werde zum richtigen Gebäude in eine Nebenstraße geschickt. Die Sekretärin winkt mir bereits aus dem Vorzimmer zu, ich bekomme einen Tee serviert und darf nach kurzer Wartezeit in das Bürgermeisterzimmer. Dort sitzt Ahmet hinter einen großen Schreibtisch und telefoniert. Er ist seit neun Jahren Bürgermeister, vorher arbeitete er mit verschiedenen Firmen unter anderem in Weißrussland und der Ukraine. Auch sein Vater war hier schon zehn Jahre. Bürgermeister. Er spricht sehr gut Englisch, den Großteil der Unterhaltung führen wir jedoch auf Türkisch. Als wir uns dann zum Essen aufmachen, bin ich von einem Lokal in der Nachbarschaft ausgegangen. Jedoch fährt der Fahrer mit dem Klimaanlagen gekühlten SUV vor. Wir fahren 15 km aus der Stadt heraus. Genau in die Richtung, in die ich morgen fahren werde (hätten wir bloß mein Fahrrad mitgenommen!) Schließlich biegen wir auf einen kleinen Feldweg ab und halten auf einer Art Picknickplatz. Dann gehen wir noch einige Minuten zu Fuß an das Ufer des Grenzflusses. Stacheldrahtrollen liegen am Ufer, gegenüber steht ein Wachturm. Trotzdem ist es ein sehr idyllischer Ort, kein Wunder, dass sich Ahmet Bey hier gerne zurückzieht. Er ist bekannt hier, schnell wird ein richtiger Tisch mit drei gepolsterten Stühlen gebracht, denn auch der Fahrer isst mit uns. Ich hab keine Ahnung, wo sich die Küche befindet, doch kurze Zeit später steht Fisch und Salat vor uns. Der Bürgermeister ist sehr interessiert an Deutschland. Er ist beeindruckt, wie es zweimal nach den Kriegsverlusten und völligem Ruin geschafft hat, innerhalb weniger Jahre zur Nummer eins in der Welt zu werden. Er fragt mich, was ich von Hitler halte. Ein interessantes Gespräch entsteht. Ich gebe ihm recht, dass er sei schlau gewesen sein muss. Meine Meinung zu seinem Fanatismus und Unmenschlichkeit scheint er nicht zu registrieren. Er selber hält ihn für genial, sogar für außerirdisch. Angela Merkel sei seine Tochter. An diesem Punkt bin ich mir unsicher, ob er dies selbst glaubt oder nur erzählt, dass andere es denken. Auf jeden Fall zeigte er mir Artikel im Internet, die die Hypothese unterstützen. „Auch über Hitler selber werde nicht alles erzählt“, sagt er. Als ich nachfrage: „was zum Beispiel?“ Antwortet er, dass sein Selbstmord nicht Wirklichkeit wäre. Hitler wäre nach Südamerika geflohen und dort untergetaucht. Nur deshalb hätte es in Amerika solch eine rasante Entwicklung in dieser Zeit gegeben. Ich erwiedere, dass ich dies nicht glaube, schließlich wäre seine Leiche gefunden worden. Als er meint, dass die Menschen nur glauben, was ihnen erzählt wird, muss ich ihm jedoch zustimmen. Auch ich fand schließlich die Leichtgläubigkeit vieler Menschen gerade in den letzten Jahren schrecklich. Was ist die Wahrheit? Wer entscheidet, was Verschwörungstheorien und was Propaganda ist? In den Gesprächen mit den Ukrainer:innen am Ararat erzählten sie sehr klar, dass zur Zeit sowohl die ukrainische als auch die russische Presse Unwahrheiten verbreitet. Zu Kriegszeiten ist dies den meisten einleuchtend, doch wie ist es bei uns?

Seine Faszination von den Leistungen Deutschlands bleibt bei mir hängen. Ich bin nicht stolz, Deutsche zu sein. Es ist mir auch nicht unangenehm. Eigentlich sagt es mir wenig. Schon von klein auf bemerkte ich bei meinen Reisen, dass dies in anderen Ländern anders ist. Sei es England oder Schweden: überall sieht man Nationalflaggen vor Häusern und Geschäften, Souvenirläden sind voll davon. Auch hier in der Türkei ist sie allgegenwärtig. Wenn bei uns irgendwo eine deutsche Flagge weht, denken wir alle an Faschisten und Neonazis. Mir ist es auch auf dieser Reise so herzlich unwichtig, woher ich komme. Gleichzeitig merke ich, wie die Frage nach der Herkunft meist als erstes gestellt wird. Die Resonanz auf meine Antwort ist bisher ausnahmslos positiv. Deutschland hat ein ungemein gutes Ansehen. Und – nicht zu vergessen – profitiere ich durchgehend von den Privilegien, die mir mit der deutschen Staatsbürgerschaft geschenkt worden sind.

“Was sind Grenzen? Menschengemachte Linien mit viel Leid…”

Es wird spät, wir fahren zurück in die Stadt. Ahmet fragt mich höflich, ob ich wirklich heute Abend noch weiter fahren möchte. Ja, das möchte ich! Zum einen ist mir wirklich mehr danach, in den schön gefärbten Felsen zu schlafen, gleichzeitig brauche ich weder Dusche noch Strom. Und ich umgehe es damit nachzuspüren, ob diese Einladung wirklich ohne Hintergedanken geschieht oder ich eventuell doch falsche Signale gesetzt habe und mich abgrenzen muss.

Schneller als gedacht, wird es dunkel. Ich biege links auf einen Feldweg ab, um den Sonnenuntergang zu genießen. Der Weg führt weiter zu einer Baumreihe an einem Hang. Was für ein wunderbarer Ort! „Wäre es vielleicht 2 km weiter noch schöner gewesen?“ Ich schmunzle über diesen Gedanken, bedanke mich für den Ort, den ich hier und heute gefunden habe. Es ist genau der richtige für mich!

Heute treffe ich seit langer Zeit wieder einmal einen Türken mit einem Reiserad. Irfan kommt aus der Nähe von Izmir und macht für zehn Tage Radurlaub. Auf seinem Fahrradtrikot ist, wie damals auch bei Fatih, sein Namen und seine Blutgruppe gedruckt.

Wenig später fahre ich durch einen Kontrollposten, wir befinden uns direkt an der Grenze zu Armenien. Ich muss schmunzeln: der Soldat, der hier Wache schiebt, steht unter einem bunten Sonnenschirm und sieht aus wie ein Eisverkäufer. Ich verkneife mir einen Kommentar und Grüße nur freundlich, manchmal sind Amtspersonen hier wenig zu Scherzen aufgelegt.

Viele Höhenmeter später komme ich durch Kars, die zentrale Stadt hier im Osten. Im Laufe der Zeit armenischer, georgischer, griechischer, russischer und türkischer Kultur ausgesetzt, vereint sie eine Vielzahl von Architekturstiken. Kars Kalesi, die erstmals 1152 errichtete, 1386 von Timur zerstörte und 1579 wiedererrichtete Zitadelle von Kars, erhebt sich mächtig auf einem Plateau oberhalb der Stadt. In meinen Augen ist sie angenehm restauriert, mir gefällt es so besser, als bei dem sehr herausgeputzten Palast in Doğubayazıt. Ein steiler Weg mit altem Steinpflaster führt hinauf. Meine Radschuhe rutschen, doch als ich mich mühsam hochgekämpft habe, kann ich einen weiten Ausblick über die flache Hochebene genießen. Zu Füßen des Plateaus liegt die ehemalige armenische „Kirche der Apostel“, erbaut zwischen 932 und 937. Als ich sie besichtigen will, bin ich erstaunt: auch hier hängt das Schild „Camii“ (Moschee) über der Tür. Von oben zählten wir mindestens acht Moscheen im näheren Umfeld der Burg, dies ist also die neunte.
In Kars gibt es viele Käseläden, schon auf dem Weg waren mir die vielen Kühe ausgefallen. Hier in der Gegend wird ein bekannter Käse produziert, der auch nach Russland verkauft wird.

Gestern fiel mir ein, dass ich in der Türkei die Dokumente für den Visaantrag drucken wollte, gerade rechtzeitig vor dieser Großstadt. Doch wo druckt man hier Dokumente? Das Wort „Copy Shop“ ist unbekannt. Ich bekomme den Tipp, es in einem Schreibwarenladen zu versuchen. Doch auf dem Weg entdecke ich ein Fotostudio mit einem Ladenschild, das nahelegt, dass ich hier auch drucken kann. Richtig! Der Inhaber beginnt bereitwillig das Prozedere. Der Datentransfer ist nicht so einfach, da mein Handy sein Bluetoothgerät nicht erkennt. Doch schließlich bekommen wir es mithilfe eines weiteren Kunden hin. Ich lasse alles erstmal in schwarz-weiß ausdrucken und hoffe, dass das reicht.

Ich bin immer noch ohne Simkarte in der Türkei. Es ist interessant, mal wieder zu merken!und mich zu beobachten, wo mir meine Daten überall fehlen. Meine beliebtesten Wifi-Stationen sind inzwischen Tankstellen und Mobilfunkgeschäfte. Heute bekomme ich sogar einen Tee zum kostenlosen WLAN gebracht!

Meinen Schlafplatz finde ich 20 km weiter an einer Flussmündung. Viele Feuerstellen und leere Plastikflaschen zeigen mir, dass ich diesen Platz nicht als erstes entdeckt habe. Abends kommen Schwärme von winzigen Faltern hervor. Sie sitzen überall – im Essen, im Gesicht und auf meinem Körper und entfernen sich selbst dann nicht, wenn ich mich schüttele. Zum Glück stechen sie auch nicht. Zwischen belustigt und genervt lege ich mich in den Schlafsack in meiner Hängematte und genieße das Rauschen des Wassers. Morgens weckt mich wieder die Sonne, seit Georgien habe ich keinen Regen mehr gesehen. Das ist nun fast zwei Wochen her.

Mit Sila habe ich seit meiner Nacht bei ihr auf dem Hinweg lockeren Kontakt. Ich musste ihr versprechen, auf meinem Rückweg wieder vorbei zu schauen. Ohne Internet ist das Verabreden jedoch nicht so einfach! Ich hatte ihr aus Kars mein Kommen angekündigt, als ich aber auf dem Hof stehe, ist die Tür verschlossen – keiner ist da. Ich schaue mich um, in einem weiteren Gebäude auf dem Hof regt sich etwas. Ich versuche mich zu erklären, doch da kommt schon Sila um die Ecke. Ihre Cousine ist zur Zeit nicht da, deshalb wohnt sie gerade bei ihrer Mutter. Sie hatte mir geschrieben, dass wir uns dort treffen, wo wir uns damals begegnet sind. Doch diese Nachricht war natürlich mangels Internet nicht angekommen. Das Elternhaus von Sila liegt über dem kleinen Laden ihrer Großmutter. Sie hat zwei kleine Geschwister, der zehnjährige Bruder hat Diabetes. Dazu laufen eine Menge weiterer Kinder herum. Die Mütter sitzen beim Tee zusammen. Sila ist sichtlich genervt und meint, dass es ihr viel zu viel Gewusel ist. Dies ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb sie möglichst bei ihrer Cousine die Ferien verbringt. Mir jedoch gefällt das Zusammensein mit den vielen Frauen verschiedenen Alters und den Kindern.

Nachts war ich häufiger auf dem Klo, doch meine Magenverstimmung hält sich in Grenzen. Größer als die Beschwerden waren meine Bedenken, dass ich die Familie damit stören könnte. Beim Frühstück ist es sehr herzlich. Zum ersten Mal auf meiner Reise gibt es Avocado – eine Leibspeise von Sila. Auf dem Gasgrill toastet das Weißbrot, dazu gibt es Käse, Marmelade, Tomaten und ganz viel Tee. Nach und nach zu kommen die anderen Menschen dazu. Erst die Oma, später auch die Cousinen samt vieler Kinder. Ganz durchschaue ich die Familienverhältnisse bis zum Ende nicht. Die Sonne scheint, alle kommen zum Verabschieden auf den Hof. Nachdem die Kinder das Fahrrad und meine Ausrüstung gecheckt und bestaunt haben, mache ich mich auf zur Grenze.

Dort will ich im Dutyfree Shop meine letzten türkischen Lira ausgeben. Erstaunt über die günstigen Preise merke ich schließlich, dass alles in Euro ausgezeichnet ist. Nun ist mir alles zu teuer. Doch direkt nebenan ist ein Café. Als ich mich dorthin wende, sehe ich einen Drucker auf einem Tisch stehen, an der Säule ein Zettel mit einem sehr günstigen Preis. Nachts erhielt ich die Information, dass ich nicht nur die Dokumente sondern auch den Visa-Antrag ausgedruckt in der Botschaft vorlegen muss. Da kommt er wie gerufen! Ich weiß zwar nicht, ob sich der Preis auf ein Dokument oder eine Seite bezieht, doch der junge Türke ist bereit, sich mit meinen restlichen Lira zu begnügen. Wieder ist das Übertragen der Daten nicht einfach, doch dann ist es geschafft. Hinterher ärgere ich mich ein wenig, dass ich nicht auch gleich nach der Passkopie gefragt habe. Doch Ärgern gelingt mir hier nie lange. Der Himmel ist blau, das Fahrrad unter mir fährt. Ich genieße es und werde für das andere schon eine Lösung finden! Es wird heiß und ich merke doch, dass ich ziemlich schlapp bin. Nachdem ich mich den ersten Berg hochgekämpft habe, mache ich eine lange Pause an einem Picknicktisch neben der ersten georgischen Kapelle. Der Schlaf tut gut! Da muss meine Simkarte eben noch ein wenig warten. Ich merke erfreut, wie entspannt ich bin. Kein Internet? Dann eben nicht! Es gibt doch ab und zu WLAN. Keine Passkopie? Egal! In Tiflis werde ich bestimmt auch am Sonntag etwas finden. Ich komme nicht rechtzeitig genug in Tiflis an? Na und? Zwei Tage später hat die Botschaft wieder geöffnet! – Ich bin gespannt, wie lange ich diese Gelassenheit mir im Alltag bewahren kann. 

3 Kommentare

  • Michael Weisker

    Da muss frau soweit fahren um die wahre Geschichte zu erfahren (im wahrsten Sinne des Wortes😉). Dann weiter gute Fahrt und schöne Berichte für die Daheimgebliebenen 👍

  • raziye

    Liebe Anke mit Begeisterung lese ich deine Eindrücke von der Reise.
    Und die Informationen über die Orte und Sehenswürdigkeiten erwecken in mir die Reiselust, mit dem Fahrrad. Deine Reiseberichte beschreibst du bildhaft und so gut flueßend. Die Bilder ergänzen deine ausführlichen Reiseberichte. Ich vermute längst, dass das ein Buch sein wird.
    Ich danke dir, dass du mich an deine Reise teilhaben lässt.
    raziye

  • Papa

    Danke, dass Du uns auf Deine Reise mitnimmst. Ohne Deine spannenden Berichte würden wir Dir nicht auf dem Atlas folgen und nicht bei Wikipedia in die leider mörderische Geschichte der Volks- und Religionskriege der rusisschen, persischen und osmanischen Reiche einsteigen. Schön zu erfahren, dass die normalen (?) Menschen sich im Alltag wenig von den machtpolitischen Herrscherinteressen lenken lassen.
    Weiter alles Gute und zieh Dich warm an, wenn die hohen Berge kommen.
    Papa

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